Der Stoff
Zusammenfassung der Verreibung
Heilig und rein sein, fasten
Stocken von Sexualität und
Lebenskraft
Lähmung und Selbstvorwürfe
durch den Konflikt
Fehlende Bereitschaft, die Folgen zu
tragen
Versuch einer Deutung (von der falsche Harmonie
in den gelebten Konflikt oder vom Mut, Falsches zu tun)
Stoff: | getrocknete Samen von Agnus castus |
Prüfungs-Datum: | 22.3.1999 |
Prüfungs-Status: | 5 blind, Verreibern 1 und 7 war der Stoff bekannt, wobei nur Teilnehmer 1 etwas über das Arzneimittelbild von agnus castus wusste |
Personen: | 7 = 2 W + 5 M |
Autor: | Olaf Posdzech |
Datum: | 27.3.1999 |
Textstatus: | vollständiges Protokoll anhand der Mitschrift (es ist kein Tonbandmitschnitt vorhanden) |
Agnus castus beschreibt in dieser Verreibung einen Zustand, in dem sich das Ich davor drückt, ein unlösbaren Konflikt zwischen Moral und anderen Ansprüchen auszuleben. Die kranke "Lösung" ist eine komplette Unterdrückung der ungewollten Anteile, die zu einem Schwinden der Lebenskraft führt. Heilung dieses Zustandes ist die Bereitschaft, im Sinn der Moral etwas Falsches zu tun, dass sich dabei doch für das Ich als richtig erweisen könnte.
Vorrangiges Feld dieses Konfliktes ist die nicht gelebte eigene Sexualität, die zugunsten des Aufgehobenseins in einer Sippe unterdrückt wird. In der Arzneimittelprüfung zeigte sich die selbe Problematik aber auch in Konflikten, die nicht sexueller Natur sind.
Agnus castus ist der Mönchspfeffer, eine Pflanze. Witold Ehrler hat sie im botanischen Garten von Berlin aufgefunden und die Samen im Herbst 1998 gesammelt, die der Ausgangsstoff für diese Verreibung waren. Die C1 wurde in Abwesenheit der anderen Teilnehmer von Prüfer 1 und 7 verrieben, damit die Gruppenprüfung für die anderen Teilnehmer blind erfolgen kann.
Die Mönche taten Agnus castus früher auf ihre Speisen, um nicht mehr sexuell aktiv zu sein. Es heißt, wenn ein Mann diesen Stoff drei Monate genommen hat, ist er für den Rest seines Lebens unfruchtbar! Daher stammt also der Name Mönchspfeffer. Auch der lateinische Name Agnus castus bedeutet "frommes Lamm". Wir kennen das Wort aus der deutschen Redewendung "sich selbst kasteien".
Die mehrstündige Arzneimittelprüfung war für 5 Teilnehmer blind und nur einem Teilnehmer war das Arzneimittelbild des Stoffes bekannt.
7 1 --------- | | 6w | |2 | | 5 | |3 --------- 4w w = weiblich
Abb. 1: Sitzordnung der Prüfer während der Verreibung
Die Zusammenfassung der Verreibungsergebnisse ist – soweit möglich – durch Verweise auf das Originalprotokoll untermauert. (t1 c1) bedeutet dann, die entsprechende Aussage stammt von Teilnehmer 1, und sie wurde von ihm während der Verreibung der C1 aufgeschrieben.
Fasten wurde in mehrfacher Hinsicht zu einem auffällig zentralen
Thema während unserer Arzneimittelprüfung.
Teilnehmer 7 hatte gerade eine Fastenkur begonnen. Schon auf dem Weg
hatte er Prüfer 7 davon erzählt, dass er sein Fasten zudem mit
einem alten tibetischen Initationsritual verbinden wolle, bei dem man
für einige Tage in einen völlig dunklen Raum geht.
Während der Verreibung machte sich der Teilnehmer viele
widersprüchliche Gedanken über den Sinn dieser Entscheidung.
(t7 c2)
Teilnehmer 3 war am Abend zuvor im Internet zweimal auf Anhängern
der Lichtnahrungstheorie gestoßen, die die Auffassung vertreten,
dass eine materielle Ernährung des Menschen überflüssig
sei, weil sich der Mensch im Rahmen seiner Transformation nur von
Lichtnahrung (Prana) ernähren brauche. Obwohl diesem Teilnehmer
eine solche Auffassung sehr befremdlich ist, hatte er sich zur eigenen
Verwunderung am Vorabend trotzdem auf diese Thematik eingelassen und den
mehrseitigen Erfahrungsbericht eines Mannes gelesen, der dieses Fasten
seit 5 Wochen im Selbstversuch an sich ausprobiert. Er hat diesem Mann
in der Nacht vor der Verreibung sogar einen Brief geschrieben. (t3
c2)
Verreiberin 6 war das erste Mal in dieser Gruppe. Sie erzählte in
der Pause, dass sie vor ihrem Umzug nach Berlin zwei Jahre allein im
Wald gelebt und die Natur gesucht hat. Im Streit um den Sinn des Fastens
bezog sie später die Argumente der Lichtnahrungs-Verfechter
("Wir ernähren uns sowieso alle von Prana und merken es nur
nicht.") (t6 c4)
Auch über Sexualität wurde (wieder einmal) viel
reflektiert. Dieses Mal war der Grund dafür aber das Gefühl,
dass sich die Sexualität und das Bedürfnis danach in uns
während der Verreibung auslöschte.
Auffällig war in diesem Zusammenhang ein Streit zwischen
Prüfer 2 und 7, in dem letzterer die Wichtigkeit der
Sexualität für Wilhelm Reich in Frage stellte. Das war
insofern sehr ungewöhnlich, weil dieser Teilnehmer sonst einen
anderen Standpunkt vertritt (er hat selbst sehr viele Erfahrungen in
Körperarbeit gemacht).
Einige Zitate sollen das Verschwinden des Sexualtriebs belegen:
In der Stunde der C2-Verreibung spürten die meisten eine
verführerische, besänftigende innere Ruhe und Harmonie, die
sogar dazu führte, dass wir mit Genuss ungewöhnlich viel von
diesem Stoff probierten (was ich selbst später sehr bereut habe, da
das sexuelle Abstinenzgefühl in mir über Wochen anhielt).
Doch obwohl Wilhelm Reich unter uns in dieser Stimmung eine schweren
Stand hatte, benutzen viele der Aussagen gerade die Begrifflichkeit von
Reichs Konzepten, und schienen seine Theorie dadurch doch zu
bestätigen. Dem Verschwinden der Sexualität entsprach
nämlich ein deutlich empfundenes Stocken der Lebenskraft, die keine
Verbindung mehr zu Bauch, Becken und Erde hatte. Zwei Prüfer
beschrieben dies ganz explizit:
Eine Teilnehmerin beschrieb ihr später erleichterndes Gefühl in der C4 genau mit den Begriffen, wie Reich sie für den orgastisch potenten Organismus benutzt:
Viele Teilnehmer erlebten in sich unlösbare Konflikte zwischen eigenen Bedürfnissen und einem (moralischen) Anspruch:
Diese nicht gelösten Konflikte resultierten in starken Selbstvorwürfen und Lähmungsgefühlen, wie sie vor allem von den Teilnehmern 3, 5 und 7 eine Stunde lang in der C3 und C4 erlebt wurden.
Prüferin 4 war in ihrem Alltagsleben gerade in einem Konflikt
gefangen, in dem sie sich gezwungen sah eine wirtschaftliche
Entscheidung zu treffen, durch die möglicherweise andere Menschen
in den Bankrott gehen würden. Dieser Konflikt führte in ihr zu
Lähmung und Kraftlosigkeit, und er wurde von ihr während der
ganzen Verreibung stark reflektiert.
Sie erlebte Lähmung durch einen inneren Konflikt also schon
vor der Agnus castus-Verreibung, während ihr der Stoff in
der Verreibung selbst sehr viel Energie schickte und die Fähigkeit,
aus dem Konflikt in die Aktion zu kommen. (Heilungssymptom). (t4 c2)
Einer der Prüfer erzählte, wie er einer Freundin ein
homöopathisches Mittel geschickt habe, damit dieses mit ihr etwas
macht, ohne dass diese Freundin darum gebeten hatte. Aber sie müsse
es ja nicht nehmen, das Mittel würde auch schon dadurch seine
Wirkung an dieser Freundin tun, da es ihr geschickt wurde. Auf die
Frage, wie kannst du das tun (jemand heimlich behandeln), antwortete die
Person, sie habe es der Freundin doch frei gestellt, es zu nehmen. Es
wäre doch nicht in ihrer Verantwortung, wenn das Mittel schon so
etwas mit ihr tun wolle. (t? c2)
Teilnehmer 3 reflektierte (durch seinen Traum direkt vor der Verreibung
ausgelöst) über schuldfreies Leben von Sexualität in
kindlicher Unschuld und über frei sein von inneren moralischen
Einsprüchen, wobei sich in diesem Traum Giftwirkung und Heilwirkung
des Mittels noch völlig miteinander vermischen. Sich fesseln zu
lassen erlebte er als einen reizvollen Weg, Sexualität leben zu
können, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu
müssen. (t3 c2)
Teilnehmer 1 erzählte am Ende unseres Zusammenseins eine
Geschichte über Agnus castus, die er von einem alten
Homöopathen gehört hatte.
Dieser berichtete am Ende eines eher sachlichen Vortrags unter
Tränen von seinem größten Behandlungsfehler. Eine alte
Patientin war zu diesem Homöopathen gekommen. Auf die Frage, wie es
ihr ginge sagte sie, es wäre eigentlich ganz gut, nur ihr Mann
(auch schon über 70) wolle drei mal am Tag mit ihr schlafen. Einmal
könne sie ja noch verstehen, aber drei mal sei wirklich etwas viel.
Ob er nicht etwas dagegen machen könne? Der alte Homöopath gab
ihr Agnus castus C2 und sagte, sie solle ihrem Mann davon abends etwas
aufs Essen tun. Eine Woche später kam ihr Mann zu ihm in die
Praxis. Es wäre ganz seltsam, sagte dieser. Eigentlich sei er
gesund, aber seit einer Woche würde seine ganze Lebenskraft und
Lebenslust aus ihm weichen. Er habe zu nichts mehr Freude. Vier Tage
später wurde dieser Mann von einem Auto überfahren.
Die Geschichte des alten Homöopathen ist auch in Bezug auf ihn selbst eine Agnus castus – Geschichte. Denn sie erzählt von seiner eigenen fehlenden Bereitschaft, sich offen mit der nicht gewollten Sexualität auseinanderzusetzen. So half er der Patientin, ihrem Mann dieses Mittel heimlich zu gegeben.
Die Verführung von Agnus castus liegt darin, diesen
Stoff zur Herstellung einer Harmonie zu missbrauchen, obwohl
das seine Giftwirkung ist und nicht die Heilkraft. Wenn man das
tut, hat man zwar die Harmonie, aber es zieht zugleich die Lebenskraft
aus dem Körper. (t2 c2-c4), (t6 c4)
Agnus castus ist in dieser Hinsicht ein Gegenpol zu den
Nachtschattengewächsen. Zur selben historischen Zeit, in der sich
die Mönche Agnus castus aufs Essen taten um ihre Triebe zu
besänftigen, verleibten sich Hexen und Schamanen die
Nachtschattengewächse ein, um sich mit den dunklen
Kräften zu verbinden. Auch die Nachtschatten-Gewächse wirkten
bei dieser Verwendung mit ihrem Giftprinzip.
Auf der Basis dieser Verreibung stellt sich nun das eigentliche Thema
von Agnus castus und seine Lösung wie folgt dar:
Das Ich sucht Bindung und Anbindung in einer Sippe (Familie) oder
spirituellen Gemeinschaft. Um dazu zu gehören, blendet es einen
inneren Anteil von sich selbst aus, der nicht ins moralische Bild dieser
Gruppe passt. (t3 c2) (t2 c3) (t7 c4)
Das Ziel ist die Vermeidung von Schuld oder von Verantwortung für
diesen nicht gewollten Teil. Selbst, wenn ein solcher Teil gelebt wird,
versucht das Ich im Dilemma von Agnus castus dieses Handeln auf eine Art
zu inszenieren, in der dann scheinbar andere Personen die Verantwortung
tragen, so dass man selbst "schuldfrei" bleibt. (t3 c2) (t4
c2)
Man ist also in einem Konflikt zwischen dem Anspruch der
Moral (die ja nach Hellinger eine Instanz der Sippe ist),
und anderen inneren Kräften, die dieser Moral genau
entgegengesetzt sind. Dieser Konflikt ist nicht lösbar, da
beide Kräfte ihre Berechtigung haben. Dadurch führt er zur
Lähmung (t3, t4) oder zu Selbstvorwürfen und
Minderwertigkeitsgefühlen (t5, t7). Auf der körperlichen Ebene
entspricht dem ein Gefühl von Entkörperlichung (schweben,
fasten) (t6, t7) oder gestockter Lebenskraft, die nicht mehr bis in
Bauch und Becken fließt. (t2, t6)
Der Hauptfeld solcher Konflikte ist natürlich die eigene
Sexualität, die als Ganzes oder in Teilen vom Gewissen als
unmoralisch abgelehnt wird. In diesem Fall gerät der
Agnus-castus - Kranke in einen Zustand, in dem die Sexualität aus
dem eigenen Erleben vollständig ausgeblendet ist. Diese
Verdrängung ist so perfekt, dass man sogar das Gefühl hat, als
seien die zugehörigen Körperteile aus dem Körper entfernt
worden.
In der Arzneimittelprüfung wurden aber auch nicht sexuelle
Konflikte thematisiert, beispielsweise zwischen moralischem
Anspruch und wirtschaftlichen Nöten, oder schlicht und einfach die
Lust auf gutes Essen während einer Fastenkur.
Agnus castus fordert das Ich nun auf: trete aus der
Lähmung deines inneren moralischen Konfliktes hinaus, indem du
bewußt die eine Seite lebst und gegen die andere Instanz in dir
verstößt. Nimm deine scheinbar negative Seite wieder
mit zu dir hinein und lebe sie, selbst wenn eine andere Instanz in dir
sie verurteilt! Mache mit dieser verurteilten Seite Erfahrungen im
praktischen Leben – und erkenne auf diese Art, ob dein Urteil
nicht eine Illusion war. (t3 c4) (t6 c4)
Wenn du das tust, bist du voller Kraft. Dann stehen dein Atem und deine
Lebensenergie deinem ganzen Körper wieder zur Verfügung -
hinein bis in die letzte Zelle. (t2, t4, t6 c4)
Bei der Auswertung unserer Verreibung verstanden wir nicht, wie zu
dieser Sicht die Perspektive von Prüfer 1 passt, das Mittel
beschreibe einen Zustand in dem man gescheitert ist, obwohl man alles
richtig getan hat.
Vielleicht lässt es sich so interpretieren: Die eben beschriebene
Situation ist eine, in der sich das Ich in einem inneren Konflikt
zwischen moralischen Anspruch und einer anderen Kraft befindet, die
gegen diese Moral verstößt. Um alles richtig zu machen,
entschließt man sich in der Agnus castus – Krankheit, der
Moral zu folgen. In diesem Sinne hat man sich völlig korrekt
entschlossen und tatsächlich alles richtig gemacht.
Trotzdem tritt ein Ergebnis ein, mit dem man am Leben scheitert. Denn
für dieses Mittel ist das Falsche das Richtige!
Diese Situation, in der man nichts Richtiges tun kann, beschreibt der Witz, der einem Prüfer während der C4 in den Sinn kam: "Mir fiel dann ein Witz ein, wie zwei vom Hochhaus springen. Der eine hatte Pech und schlug unten auf. Der andere hatte Glück und blieb im 5. Stock mit dem Auge an einem rostigen Nagel hängen." (t7 c4)
Auch die bessere Lösung ist hier schrecklich. Das korrespondiert zu einem Konflikt von Teilnehmerin 4, die in ihrem Alltagsleben gerade die Wahl zwischen zwei verschiedenen Schrecken treffen musste, und der Agnus castus während der Verreibung eine große Kraft und die Fähigkeit zu "wohltuender Härte" gab. (t4 c4) (Solche Zusammenhänge waren uns während der Verreibung natürlich noch nicht klar.)
Es geht also bei Agnus castus darum, etwas zu tun, das von einer anderen inneren Instanz für falsch bewertet wird und auf diese Weise ein Wissen darüber zu erlangen, ob das Falsche wirklich falsch ist. Diese Erfahrung kann nur das Leben liefern, da offensichtlich unsere inneren moralischen Einstellungen gar nicht von eigener Erfahrung geprägt sind, sondern fremdgeprägt.
Diese Sicht soll noch einmal mit den Gedanken von Teilnehmer 3 bekräftigt werden, die dieser während der C4 hatte:
Olaf Posdzech
27.3.1999