Cocculus – innerlich leere Fassade sein für ein kulturerhaltendes
Ritual
Dokumentation einer C4-Verreibung
Stoff: |
Anamirta cocculus, getrocknete Samen (zwei pro Mörser) |
Verreibungs-Datum: |
2004-02-18 |
Verreibungs-Status: |
unblind |
Personen: |
3 Personen = 1 W + 2 M |
Autor: |
Olaf Posdzech |
Datum: |
2005-06-21 |
Textstatus: |
Weitgehend wörtliche Mitschrift |
Vorwort
Wichtige Themen der Verreibung:
- sich ausbluten für eine sinnlose Aufgabe und dabei von sich
selbst innerlich leer geworden sein, eine nötige Staffage/Attrappe
sein – man dient einem Ritual und damit der Kultur-Erhaltung (was
einen Sinn darstellt, aber keinen Sinn hat für einen selbst)
- schwerelos, ohne Gewicht, ohne Ich, nichts Eigenes tragen, dadurch
belastungsfähig sein für die kulturerhaltende
Fremdfunktion
- die Krankheit entsteht möglicherweise an der Weigerung, der
Sinnlosigkeit der eigenen Hilfshandlungen ins Auge zu schauen und zu
akzeptieren, dass sie trotzdem nötig sind
Der Stoff
- Familie der Mondsamengewächse, ein Schling-Strauch (!)
- Farbe der Früchte frisch: rote Farbe, getrocknet:
dunkelbraun
- Inhaltsstoffe: Picrotoxin, Cocculin: wirkt erregend auf motorische
Nerven
- Symptome: klonische und tonische Krämpfe, Kopfschmerz,
Schwindel, Depressionen, spasmische Zuckungen …
Schläfrigkeit, Stupor, Koma, …
- Ist als Gegenmittel bei Barbiturat-Vergiftungen bewährt
- Hochwirksam – 0.002 g (!) des Wirkstoffes sollten nicht
überschritten werden
C1
Teilnehmer 1
- Assoziation beim Anblick der Samen: ausgetrocknet, lässt sich
nicht unterkriegen (ein Fetzen der pergamentartigen Schale widersteht
der Verreibung, obwohl superleichtes Gewebe, härter noch als
Bambus).
- Ich verliere mich, mein Ich zieht sich aus dem Körper
zurück und verlässt mich – ich verreibe fleißig
weiter wie für jemand anderen, an dessen Bett ich
vielleicht sitze und der diese Arznei braucht. Ich fühle mich wie
in einem Carcinosin-Zustand oder – genauer noch – wie in
einer China-Situation, aber mit der inneren Freundlichkeit und dem
mich-reinfügen von Carcinosin.
- Zeit vergeht relativ schnell – so reicht die Kraft
länger, da ja die Anstrengung schneller an einem vorbei
zieht.
- Ich fühle mich wie dieser pergamentartige Fetzen in der Schale
– ohne Gewicht (ohne eigenes Gewicht = ohne Ich), aber
unglaublich zäh.
- Mein Körpergefühl ist ganz leicht, als sei der eigene
Körper ohne Masse (dann brauche ich keine Kraft für mich
selbst, sondern kann alles dem anderen geben). Assoziation: Menschen,
die in einer Krisen-Situation das Mehrfache ihre Körpergewichts
heben können, z.B. Mutter, die ihr Kind unter einem
eingestürzten Haus hervorholt.
- Kribbeln in Ellenbogen, Unterarm und Händen, als seien sie
ganz entspannt.
Teilnehmerin 2
- Ich friere total, fast wie in einer Erstarrung, meine Hände
sind fast gelb.
- Körperlich habe ich ein leichtes Fahrstuhl-Gefühl im
Bauch.
- Geruch verursacht mir Übelkeit und Schwanken.
- Ich hatte einen leichten Kopfschmerz – aber sobald ich es zu
fassen versuche, ist es weg.
- Inneres Bild: Menschen, die wie schwerelos in
einem Raum ihn und her purzeln.
- Ich fühle mich passiv, obwohl ich mich ja am Anfang
angestrengt habe. Meine Schultern werden hart.
- Bild: mittelalterliche Menschen auf einem Markt, sie reden und
quatschen – aber es hat keine Substanz, ist nicht zu fassen!
- Diskrete Stimmung: Wir sollen nicht hinter die Kulissen
schauen, sonst sehen wir den Blick auf die Attrappen, die aber als
Fassade nötig sind (Das bedeutet für mich auch, es
hat alles keine Substanz).
- „Es ist nicht zu fassen“ zieht sich durch –
körperlich, seelisch, geistig.
- Innerlich ist kein Widerstand spürbar dagegen.
Teilnehmer 3
- Ich fühle mich sonderbar: Ich fühle mich
gekrönt – wie ein Stern, der sich vor meiner Stirn
aufbaut, mich erhebt – und ich schwebe. Ich fühle mich wie
ein Leitstern und bin geleitet gleichzeitig.
- Dann plötzlich „Eine alte Pracht wird wieder zum Leben
erweckt. In neuem Glanz und nach einem langen Fluch“. Ich dachte
an eine Opium-Verreibung in der jemand von einer Auszeit sprach, in die
man gerät, nach der aber aller ausgesetzter Schmerz irgendwann
nachgeholt werden müsse. Mein Bild habe ich so verstanden: Es ist
wie nach einer langen Zeit des Pöbels und des Mobs und dann
fängt so eine Aristokratie wieder an. Als wenn man das
nachholen könnte (so eine Kultur)?
2 |
Selbst, wenn du das sagst – es kommt mir alles so vor, wie
nicht wirklich!
Vielleicht bin ich ja im falschen Film? Ich bin irritiert und
ratlos. |
1 |
War die „Aristokratie“ auch nur als Form und Attrappe
gemeint? |
3 |
Nee, das merk ich jetzt nicht.
(/nachdenkliche Pause) |
2 |
In meinem Bild: Die Leute mit dem Reden erfüllen wie eine
Ablenkungsfunktion für das Ganze. Die wollen gar nicht
von sich selbst ablenken!
(/ratlose Pause) |
3 |
Was zieht sich durch?
Bis jetzt: masselos, entkörperlicht, ich-los. |
1 |
Mir fällt gerade eine Parallele auf: Wir trinken heute Kakao
aus Kakaopulver und masselosem Milchpulver (nicht etwa aus Milch).
Sowas haben wir noch nie gemacht! (Sonst tranken wir immer Tee.)
|
C2
Teilnehmer 1
- Beobachtung: Ich lies durch Unachtsamkeit meinen Füller auf
dem Löschpapier liegen, so dass ein großer Fleck Tinte aus
ihm heraus gesogen wurde. Ich schraubte ihn auf und sah: Die Patrone
war danach fast leer! Ich nehme das jetzt einfach wörtlich als
Symbol für das Mittel = sich ausbluten für eine
sinnlose Sache.
(/verblüfftes Lachen der anderen)
- leichter Stirn-Kopfschmerz
- Ich bleibe in dem Gefühl, hier habe ich nur eine Form
auszufüllen für etwas außerhalb von mir
(außerhalb von dem, der ich vor der Mittel-Begegnung war).
- Wenn ich so freundlich und nicht beteiligt (weil nicht vorhanden)
bin – wo liegt dann das Drama oder das zu lösende Thema in
diesem Stoff? Es ist doch alles in Ordnung, ich habe mich doch in meine
Rolle gefügt?
Teilnehmerin 2
- (/verwundert) Bei mir kommt langsam Widerstand? Es wird langsam
ungemütlich.
- Gefühl, die ganzen Filme, die da in mir ablaufen, haben
gar nichts mit mir zu tun! Es ist so beliebig, ob ich
hier verreibe oder nicht!
- Ich sehe innerlich wie eine Wolke, ein kleiner Spuk, der durch den
Realitätsfilm surrte, aber er hat gar keine Bedeutung für die
Realität.
- Bilder: Verhandlungen, jemand die Visitenkarte geben, „lieber
telefonieren und nicht jetzt verhandeln“
- Komisch, das Reiben hat sich so glatt angefühlt. Und immer,
wenn ich reinspüren wollte, bin ich in der Schüssel
hängen geblieben!
- Ich denke an eine Bekannte und habe das Gefühl: kein Inhalt,
alles ist so substanzlos. Es ist so beliebig und absurd, wie sie von
ihrer Behandlerin drei Mittel auf einmal bekommt! Wenn die Behandlerin
sagt, „Was die anderen nicht wollen, nehme ich auf mich“
– doch damit will sie es ja auch eigentlich nicht
wissen!?
- (/hilflos) Eigentlich ist alles belanglos, beliebig.
Teilnehmer 3
- Erst war es: Wie die Beendigung eines Fluches, einer verwunschene
Zeit.
- Aber dann kippte das und ich war auch wie benommen, wie nicht da,
wie verwunschen. Es ist wie eine sinnlose Zeit.
- Ich habe dann nachgedacht über das falsche Benutzen von
Kräften, zum Beispiel wie jemand Bücher verkauft über
das Abnehmen mit Silbermöve. Sowas kommt mir völlig absurd
vor!
- Man ist so daneben, so benommen, so blöd – die
Arznei will uns hier gar nichts sagen über das
Gefühl! (/der Schwerpunkt der C2 liegt eigentlich in den
Gefühlen)
1
|
Wenn man den Patienten gibt, was sie wollen, ohne selbst das
Steuer zu übernehmen (wie diese Behandlerin, die drei Mittel auf
einmal gibt) – macht man sich damit schuldig oder
unschuldig? |
2 |
Das ist hier noch nicht das Thema. |
3 |
(/sieht aus wie eine ernste alte Barium-Statue) Ich fühle
mich gerade ganz blöd, ganz benebelt.
(/Pause) |
1 |
Es ist ja ein Mittel für Nachtwachen. Bedeutet das, dass es
sinnlos ist mit den Nachtwachen? Teilnehmerin 2, du hast
doch schon welche gemacht. Wie war das? |
2 |
Ja, ich habe das erlebt. Es war sogar so absurd, dass
die Klingel oft klingelte, obwohl niemand geklingelt hat (zum
Beispiel nur aus Versehen ist jemand dran gekommen). Diese Zeit war
für mich (in meinem Leben) wie eine verlorene Zeit! Ich
habe ganz viel Zeit rein gesteckt und Energie – und nur ein
bisschen Geld zum Leben verdient. Den Kranken hat es wohl auch nicht
viel genutzt. Man kann sich darauf gar nicht wirklich einlassen, das
frisst einen sonst auf. |
C3
Teilnehmer 1
- Ich frage mich, welcher Defekt in dir muss geschlossen werden, wenn
du dich ausblutest für eine sinnlose Sache?
‚„Sinnlos“ für
wen?‘
‚Deine Krankheit ist, dass du die Sinnlosigkeit nicht spüren
möchtest. Du musst sie aber spüren, denn nur dadurch
entsteht dein Opfer an dem, dem du hilfst. Auch wenn es euch paradox
erscheinen muss: das Opfer entsteht nicht durch den Vollzug, was du
für den anderen tust (indem du etwa an seinem Bett wachst),
sondern es entsteht durch dein Gewahrsein und Fühlen der
Sinnlosigkeit.‘
- Wem nutzt das Opfer?
‚Es stärkt das Ritual –
und damit etwas, das euch kulturell zusammen hält. Ich bin
ein Kultur-Erhaltungs-Mittel.‘ (Das passt
für mich zu Teilnehmer 3s Bildern vom Wiedererwachen alter
Kulturen in der C1.)
- Bist du auch ein Mittel für die Folge von Nachtwache am
Computer, beispielsweise in einem Kraftwerk?
‚Nein, es geht um kulturelle
Rituale.‘
- Während der ganzen C3 muss ich immer wieder an diese Wachen
vor dem Ehrenmal in Berlin denken, die dort während der DDR-Zeit
stundenlang strammstehen mussten. Ich habe mich immer gefragt, was das
soll. Unter Cocculus kann ich das plötzlich akzeptieren. Es ist
eben ein sinnloses Ritual, das aber sinnvoll ist, weil es die Kultur
erhält.
- Ich selbst bin immer noch außen vor, bin überhaupt nicht
fühlend anwesend.
Teilnehmerin 2
- Ich denke an meine Zeit der Nachtwachen damals im Krankenhaus oder
auch an meinen Besuch gestern bei der Frau, der mich innerlich so
unzufrieden gemacht hat – und ich frage mich: Wollte ich aus
etwas Sinnlosem etwas Sinnvolles machen und aus etwas Lieblosem etwas
Liebevolles? Aber ich merke, ich bin keine Amelie! (Aus dem Film
„das wundervolle Leben der Amelie“.) Ich spüre, dass
ich eigentlich diese Kraft dazu gar nicht hatte! Ich hatte ein
Versagensgefühl bei diesen Nachtwachen. Ich konnte sie
nicht verwandeln, aus einer lieblosen Situation was Liebevolles machen.
Das gelang mir nicht.
- Jetzt bin ich unruhig, meine Ohren jucken.
- Bilder, Rituale: bolivianische Heiler, Ureinwohner tanzen mit
Masken …
- Es geht vielleicht nur um eine Imitation? Gefühl, ich
habe was Sinnloses gemacht und auch was Sinnloses erwartet von mir in
diesen Nachtwachen.
- Stimmung: Ich will kein artiges Kind sein!
- Zum Schluss: Ich musste immer schneller verreiben, um nicht im
Mörser hängen zu bleiben. Ich bin wie gefangen und komm
daraus nicht mehr raus. Wie gefangen im Mechanismus. Das ist hier eine
Anti-Verreibung! Echte Hingabe wird bestraft. Es kommt mir vor, als
machten wir hier etwas scheinbar sinnloses, damit auf der Gegenseite
(in der Gegenwelt) etwas Sinnvolles passiert, von dem wir hier nichts
wissen.
- Traum heute nacht: Ich trage von einem Bekannten, der auch wie
unter einem Fluch steht (er hat viele Drogen-Erfahrungen hinter sich
und ist fertig mit der Welt, zynisch und ausgebrannt) das Neugeborene
durch die Gegend. Das war auch wie so eine sinnlose Handlung. Ich
musste es windeln und so weiter und kann das gar nicht schaffen.
Teilnehmer 3
- Ich bleibe berauscht, man kann nichts selber tun hier, nicht
arbeiten (an sich oder an etwas).
- Das ist so sinnlos! Ich muss an Scilla maritima denken
(/die anderen beiden bestätigen sofort, das hätten sie auch
immer wieder gemusst). Wieso verreiben wir sowas
sinnloses??
C4
Teilnehmer 1
- Ich hatte rein gar nichts. Kein Verstehen, keine Wendung.
Teilnehmerin 2
- Ich sah einen geschliffenen Körper mit vielen Konturen –
und wie ein Stück seiner Rückseite mit vorne ist
(was eigentlich gar nicht geht)! Gefühl dazu, wie auf der
Vorderseite eine Handlung stattfindet und damit wie automatisch
verbunden gleichzeitig auf der Rückseite etwas verändert
wird. Ich denke, wir haben für die Gegenseite verrieben vielleicht
– meine einzige Erklärung.
Teilnehmer 3
- Ich hatte auch gar nichts. Das habe ich noch nie erlebt!
- Komisch, seit Jahren weigere ich mich schon, dieses Mittel zu
verreiben. Ich muss das geahnt haben! Ich hatte immer das Gefühl,
dieses Cocculus ist ein ganz leerer Stoff, der immer nur nach
reiner Formähnlichkeit verschrieben wird, ohne überhaupt ein
Wesen zu tragen. Die haben einfach nur die Vergiftungs-Symptome in die
Homöopathie übernommen. Tut mir leid, dass ihr diese
Verreibung gemacht habt.
- Komisch auch, dass am Anfang schon so viel kam, und dann wurde es
immer weniger bis zur C4.
1
|
Vielleicht hat Teilnehmerin 2 ja Recht mit ihrer Vermutung, dass
es eine Anti-Verreibung ist. |
Quellenangaben
[1]
|
Olaf Posdzech; Scilla maritima – Protokoll einer
Verreibung |