Teilnehmer 2 (Bericht ein Jahr später)
Teilnehmerin 7 (Bericht einen Monat später)
Die Begegnung mit Germanium hat mein Leben verändert. Ich bin nicht mehr der Selbe, der ich vorher war. Auch im Rückblick macht mich das traurig und zugleich erkenne ich an, dass diese Veränderung nötig war. Aber sie macht keinen Spaß! Ich habe auf Monate viel von meiner Kindlichkeit und dem Spielerischem, Unbedarften in mir verloren.
Schon in der Germanium-Verreibung selbst wurde ich ganz ernst und
bitter. Mein Blick war nur noch auf meinen Tod gerichtet. Mir stand
plötzlich deutlich vor Augen: Die Hälfte meines Lebens habe
ich schon hinter mich gebracht, vertrödelt, genossen, vertrauert,
auch manchmal liebend verbracht (was mir im Rückblick noch den
meisten Sinn zu machen schien) – doch eigentlich scheine ich
nichts, wirklich nichts getan zu haben, von dem im Moment meines Todes
irgend etwas bestehen bleibt! Zu einer Familie hatte ich es bis jetzt
nicht gebracht. Ich hatte keine Kinder, nicht einmal eine
funktionierende Beziehung hatte ich. Statt dessen habe ich mich nach der
letzten Enttäuschung wieder über Jahre in meinem
Einsamkeitsschmerz eingesperrt und wagte nichts Neues, weil mir alle
potentiellen Partnerinnen zu fremd erschienen. Ich sah keine erreichbare
Frau, bei der ich das Gefühl des miteinander wachsen Könnens
spürte. Was, wenn ich jetzt stürbe? Welch beschämende,
traurige, armselige Bilanz müsste ich ziehen?
In dieser Stimmung, dieser Bitternis verließ ich die Verreibung,
und die Stimmung blieb, blieb als Grundstimmung in mir bis heute. Es
war, als hätte jemand einen Vorhang vor meinem Tod weggezogen, und
ich müsste ihn plötzlich anblicken, müsste ihn immer
sehen! Gerade das, was ich am wenigsten sehen wollte! Ich wollte ja noch
so viel vor mir haben. Nun sah ich: es kann jeden Moment Schluss sein.
Erst die Hälfte des Lebens rum? Irrtum! Schon morgen kann dich ein
Stein erschlagen, kann ein Auto dich überfahren. Es kann immer
irgend etwas Unvorhergesehenes passieren! Du hast Glück, dass du so
alt geworden bist!
Innerlich fühlte ich mich trotz der ernsten Stimmung gleichzeitig
weich. Ich war immerzu kurz vor dem Weinen und wusste nicht, warum
– vielleicht wegen dem Blick auf den Tod? In der Nacht nach der
Verreibung hatte ich einen Traum: Eine Türkin, verhüllt mit
einem Kopftuch und schwanger kommt in der U-Bahn auf mich zu und
schmiegt sich frontal an mich, macht mich an. Es gefällt mir.
Plötzlich ist eine Gang von türkischen jugendlichen Jungs
hinter mir und hat mich als gefundenes Ziel. War das Mädchen
vielleicht sogar ein Lockvogel, um den Anlass zu liefern? Es ist
möglich, und trotzdem will ich ohne Arg bleiben, es spielt keine
Rolle. Ich bleibe in dem Gefühl des Moments mit ihr, und das war
schön. Die Jugendlichen beginnen, mich zu verhöhnen und auf
mich einzuschlagen. Ich wehre mich gar nicht, sondern beginne zu weinen.
Irgendwann frage ich einen von ihnen unter Tränen "Warum tust
du das mit mir? Du tust mir sehr weh." Da hört er auf.
Für mich war der Traum sehr heftig.
Eine innere Stimme sagte unentwegt zu mir "Tue etwas Relevantes!
Deine Zeit läuft ab! Wie lange willst du noch warten?" Wenige
Tage nach der Verreibung kaufte ich mir für 700 Euro
Lederbekleidung. So viel Geld hätte ich vorher nie für einen
solchen Luxus ausgegeben. Ich hatte immer versucht, so viel wie
möglich für "später" zu sparen. Dabei
hätte ich schon lange gern Kleidung aus Leder angezogen. Germanium
gab mir den nötigen Tritt, um das Später endlich ins Heute zu
verlegen. In mein Tagebuch schrieb ich: "Wie lange willst du noch
warten? Willst du es mit 60 kaufen? Ich möchte mich für die
Frauen attraktiv machen (ich schaue selbst sehr gern eine schön
gestylte Frau an) – und jetzt das Gefühl: Das bist du ihnen
schuldig! Schließlich willst ich selbst es ja auch."
Eine Woche später besuchte ich eine Freundin mit ihrem zwei Jahre
alten Kind und sah: Sie ist plötzlich ganz alt geworden! Sie stand
da und kümmerte sich um ihre Tochter und ich sah in ihrem Gesicht
plötzlich das Gesicht ihrer verstorbenen Mutter und dachte:
"Oh Gott, wir sind keine Kinder mehr!" Es ist wie ein
Erschrecken. Die nächsten Wochen trug ich nur schwarze Kleidung.
Ich fühlte mich, als sei meine Jugend geschwunden.
Auch im Außen war ich plötzlich mit dem Thema Tod
konfrontiert. Wenige Tage nach der Verreibung riefen mich meine Eltern
an, und erzählten mir fassungslos, dass ihr Auto über Nacht
vollständig abgebrannt war. Jemand hatte auf dem Parkplatz an einem
Firmenwagen Brandstiftung begangen, und das Feuer war auf das Auto (das
"Selbst") meiner Eltern übergegriffen und es war
vollständig ausgebrannt. Bis auf eine Hülle war nichts mehr
übrig. Die Versicherung zahlte nicht genug, um sich einen
vergleichbaren Wagen leisten zu können. Obwohl meine Eltern von
Germanium nichts wussten, löste der plötzliche "Tod"
ihres Autos in Ihnen auch ein Revision bisheriger Werte aus. Brauchen
wir dieses Fahrzeug wirklich, oder macht das Fahrzeug uns zu seinen
Sklaven? Könnten wir nicht genauso gut ohne Auto auskommen? Senden
wir unsere Aufmerksamkeit nicht überhaupt auf Dinge, die eigentlich
völlig nebensächlich sind?
Einen Monat später rief mich die Frau eines lieben Bekannten an
und erzählte mir unter Tränen, dass ihr Mann am 16.2. eine
plötzliche Gehirnblutung bekommen habe, dass er seitdem ohne
Bewusstsein wäre und dass er künstlich beatmet würde.
Dieser Mann, den ich sehr in mein Herz geschlossen habe, sollte das
Krankenhaus nie mehr verlassen. Es fällt mir schwer, dieses
Zusammentreffen nur als Zufall abzutun, denn es gibt einen zweiten Teil
der Geschichte, der sich wieder mit meinem Germanium-Kontakt
überschneidet. Fast genau ein Jahr nach unserer Verreibung habe ich
mich ein zweites Mal in die Stimmung jener Zeit begeben und diesen
Rückblick geschrieben. Kurz nachdem ich ihn beendet hatten bekam
ich einen Anruf. Der alte Mann, an den ich in diesen Tagen wieder so oft
denken musste, ist jetzt gestorben. Er hat noch ein Jahr bei seiner
Familie liegend verbracht, nicht mehr sprechen könnend, um langsam
von diesem Leben Abschied zu nehmen
Ich erlebte Germanium wie einen heftigen Tritt in den Arsch,
mein Leben endlich in die Hand zu nehmen und ins Heute zu
kommen. Zwei Wochen nach der Verreibung lernte ich eine Frau
kennen. Wieder bemerkte ich, wie sich im Kopf sofort Vorurteile
einstellten und mein Gehirn schnell aus ihrem Verhalten zu wissen
schien, warum sie nicht die Richtige für mich sein könne. Aber
inzwischen war ich in einer Stimmung in der ich wusste: Es ist kein
Spiel mehr! Entweder, du wagst es, dich jetzt verbrennen zu lassen und
dich vielleicht von einem Irrtum verletzen zu lassen oder du stirbst
vielleicht schon morgen allein. "Welche Bilanz willst du
ziehen?" Das fragte mich Germanium unaufhörlich. Und ich sah
diese Bilanz, und ich sah eine Null! Diesem Tritt in den Arsch ist es zu
verdanken, dass ich mich trotz aller Ängste begann, auf diese Frau
einzulassen. Und ich entdeckte einen wunderschönen Menschen! Ich
entdeckte eine wunderbare Seele, die ich immer mehr liebte. Ich schloss
diese Frau ganz tief in mein Herz. Ich ließ mich verletzen und war
bereit, mich ihrem und meinem Schmerz zu stellen. So tief hatte ich mich
noch nie zuvor einen Beziehung verändert! Das alles habe ich
Germanium zu verdanken.
Meine Stimmung dabei ist ernst und traurig. Die Zeit läuft ab.
Diese Wahrnehmung blieb. Ich bin nicht mehr unwissend. Ich darf nicht
mehr Kind sein.
(viel in Schwarz gekleidet)
16.1.2000
Jede kleinste Tat erscheint wesentlich, da in einem Augenblick das
ganze Leben sich wenden kann eben durch diese Tat. In nur einer Sekunde
kann das Leben sich in einen Alptraum verwandeln. Ein Schritt und alles
ist anders. Eine Sekunde Unaufmerksamkeit und das Leben verwandelt sich
in etwas, was nur ein schrecklicher Traum sein kann, aus dem man hofft,
irgendwann zu erwachen.
20.1.2000
fühle mich in bestimmter Umgebung, "wie im
Gefängnis"
21.1.2000
krank, schwach und schlaflos, "glaube, zu sterben"
27.1.2000
"Das Leben ist ein Gefängnis"
28.1.2000
Mir ist, als sei ich in der Mitte meines Lebens angelangt, als ginge
ich von jetzt an dem Tode zu.
Ich sehe mein Leben als Ganzes, als "Stück" irgendwo in
der Zeit und es erschreckt mich gar nicht (wie früher die Gedanken
daran), ich fühle mich darin sogar geborgen.
Ich bin dem Ende näher als dem Anfang, ich gehe nun
"bergabwärts", dem Ende zu. Dies macht mich friedlich,
ruhig.
29.1.2000
Verreibung, daraufhin rasende Kopfschmerzen/ Zahnschmerzen, völlig
am Ende
30.2.200
Schlaflose Nacht durch höllische Zahnschmerzen, ich heule und
schreie und versuche, durch völliges Hineingehen in den Schmerz,
diesen zu verwandeln. Jede Sekunde ist so unerträglich, dass ich
lieber tot sein würde, als dies noch eine Sekunde länger zu
fühlen. Der Schmerz ist zu groß.
1.2.2000
Schmerztabletten, die kaum helfen. Genieße jede schmerzfreie
Sekunde und fürchte doch gleichzeitig das Wiederauftreten des
Schmerzes. Irgendwann wirken die Tabletten überhaupt nicht mehr,
darum wieder solche Schmerzen, dass ich nur noch weine und lieber tot
sein würde.
2.1.2000
Entfernung der Zahnnerven. Jeder Moment ohne Schmerz ist ein
Wunder.
13.2.2000
Traum von Frau, die mir ein für sechs Monate gültiges Orakel
legt, welches mich, wie sie sagt, vom Verreibungs-Gruppenorakel befreit,
es lautet: "Mut und Glück"
28.2.2000
"Zufällig" untersuche ich mein eigenes Horoskop auf
Todesdirektionen hin, was ich früher immer vermieden habe. Und
diesmal erleichtert es mich fast (früher hat mich die
Möglichkeit, den Tod unter Umständen aus dem Horoskop lesen zu
können immer völlig geschreckt, es kam mir so vor, als
"dürfe" man solches nicht wissen oder wissen wollen).
Der Tod verliert seinen Schrecken, wenn man ihn anblickt.
Olaf Posdzech
März 2001