Vorwort
Gefühle und Wahrnehmungen während der
Verreibung
Texte
Zusammenfassung und Versuch einer
Deutung
Stoff: | Blut-Serum eines Menschen mit HIV-Diagnose |
Prüfungs-Datum: | 13.2.1999 |
Prüfungs-Status: | 9 blind, 4 Verreibern war der Stoff bekannt |
Personen: | 13 = 5 W + 8 M |
Autor: | Olaf Posdzech |
Datum: | 1999-02-15; v: 1.1 2000-01-14 |
Textstatus: | unvollständiges Protokoll, die persönlichen Aufzeichnungen sind jedoch vollständig |
Während der Verreibung von HIV-Blut war die vorherrschende
Wahrnehmung die völlige emotionslose
Vereinzelung aller Teilnehmer und die Abwesenheit von
Gedanken und Gefühlen (innere Leere). Durch
hektische Betriebsamkeit und sexuelle Zoten wurde
versucht, dieses schwer erträgliche Gefühl zu kompensieren.
Die innere emotionale und geistige Leere stellte sich aus meiner
Perspektive als das eigentliche zentrale Thema der Verreibung von HIV/
AIDS dar, um das auch meine eigenen Gedanken während der C4
kreisten.
Die Verreibung war blind, der Stoff war bis zum Schluss nur den
Teilnehmern 10, 11, 12 und 13 bekannt. (Als ich selbst hinterher
erfuhr, dass es sich um das Serum eines HIV-Kranken handelte, wurde
mir ein wenig flau, denn ich hatte von der C2 gekostet.)
Wie bei allen Nosoden ergibt sich auch bei HIV-AIDS der heikle
Umstand, dass das Arzneimittelbild und die Gedanken und Gefühle
während der Verreibung uns leicht zu dem Glauben verleiten, wir
würden dadurch von oben herab blickend etwas über die an
dieser Krankheit leidenden Menschen wissen. In Achtung vor der Schwere
ihrer Erkrankung und dem Leiden der Betroffenen möchte ich vor
einer solchen Haltung warnen!
Alles, was in diesem Text über HIV/AIDS gesagt wird bezieht sich
ausschließlich aus dem Erleben bei der homöopathischen
Aufbereitung. Inwieweit jemand dies auch als persönliche zentrale
Themen empfindet, der selbst an AIDS erkrankt ist, können wir nicht
wissen.
Genauso wenig können wir heute sagen, ob das nicht bewältigte
Thema der Beziehungslosigkeit und Vereinzelung den Körper
anfällig macht für eine AIDS-Erkrankung oder HIV-Infektion.
Diesen Fragen können wir uns nur in der lebendigen Begegnung
gemeinsam mit unseren Klienten nähern.
Ebenso ist es möglich, dass sich in dieser Verreibung (wie so oft)
nur einzelne Aspekte gezeigt haben, so dass ein vollständiges Bild
weitaus vielschichtiger wäre. Einen Hinweis darauf bietet das
Erleben von Witold Ehrler, der auch an dieser Verreibung teilnahm. Er
erlebte von Anfang an einen ganz anderen Punkt als das zentrales Thema
von "HIV" (wobei es aber auch viele Gemeinsamkeiten gibt). Von
der räumlichen Sitzposition her betrachtet saßen Witold und
ich an genau gegenüber liegenden Ufern des Arzneimittelfeldes.
Wie soll man dieses Gefühl beschreiben? Stell dir vor, du sitzt
an diesem viereckigen Tisch und rührst, und du bist völlig mit
deiner Schüssel beschäftigt, aber ohne dabei irgendein
intensives Gefühl, einen Drang oder Anspruch in dir zu erleben. Es
ist nur so – wenn du hier nicht rühren würdest, was
solltest du sonst tun? Irgendwas muss man ja machen, denn sonst
wäre es total langweilig! Also rührst du eben.
Irgendwann geht dein Blick hoch und siehst die anderen am Tisch
sitzend, die auch alle am Reiben sind. Doch so sehr du auch umher
schaust, nie trifft dein Blick ein anderes Auge. Alle stieren vor sich
hin und machen ihr Ding. Wenn sich doch einmal zwei Blicke kreuzen,
weichen sie schnell einander aus oder ihr seht euch mit hohlem Blick an
wie einen fremden Gegenstand, mit dem du überhaupt nichts anfangen
kannst.
Dabei ist aber noch nicht einmal ein Anflug von Einsamkeit in dir. Du
bist so abgestumpft, dass du es nur noch wahr nimmst als sähest du
das, was passiert, in einem Film. Eigentlich ist dein ganzes Leben schon
ein Film, der keinen Bezug zu dir hat.
Die Interaktion bei dieser Verreibung war – wenn sie denn
stattfand – voll von sexuellen Bildern und Anspielungen. Diese
Sexualität war nur scheinbar. Jede Erotik fehlte und es stand auch
keine wirkliche Attraktion aufeinander dahinter. Am Anderen war
man gar nicht wirklich interessiert, weder geistig, noch seelisch, noch
körperlich.
So gab es obszöne Gesten, seinen Pistill zu onanieren oder
mehrfache Assoziationen von Penis verschlingender Vulva angesichts eines
Teilnehmers, der mit unangemessen kleinem Pistill eine große
Schüssel bearbeitete. Das hatte mehr etwas von – "ich
mach mal hier 'ne sexuelle Anspielung, das funktioniert ja meist
ganz gut, um irgendwie in Kontakt zu kommen".
In so einem Zustand treibt man es vielleicht auch mal schnell
miteinander (warum sollte man es nicht tun, irgendwas muss man ja tun)
– aber du könntest statt dessen genauso gut auch ein
Brötchen essen oder ein Computerspiel spielen. Hinterher schaltet
man ihn aus, und es ist nichts gewesen. Es bleibt keine
Konsequenz. Das Leben wird also in dieser Krankheit wie ein
virtuelles Spiel betrieben, bei dem sich der Geist seinen Spaß
holt, ohne die Bedürfnisse von Körper oder Seele
überhaupt wahrzunehmen.
Menstruationsblut und Sperma tauchten bei verschiedenen Teilnehmern
in Bildern oder gedanklichen Assoziationen auf. Interessanter Weise
waren diese Bilder mit archetypischen Assoziationen verbunden (bisher
waren von Witold noch keine C4-Texte zu diesen Stoffen
veröffentlicht worden).
Menstruationsblut stand für eine die Männer magisch
anziehende, verschlingende, zerstörerische weibliche Kraft (Kali,
Amazonen), die als eine den Ausgleich fordernde Kraft der Erde gelebt
und geehrt werden muss. Nur durch die Zerstörung des
Vergehenswerten kann Neues entstehen.
Auch ich selbst hatte in der Woche vor der Verreibung mehrfache
Begegnungen mit dem Themen Sperma und Menstruationsblut. Einer Freundin
wurde erzählt, dass es für eine Frau ein Leichtes sei, jeden
Mann von sich abhängig zu machen, indem sie ihm einen Tropfen ihres
Menstruationsblutes unter das Essen mische. Diese Frau erzählte mir
auch, dass der Mann unbedingt sein eigenes Sperma essen müsse, um
sich dessen Energie wieder zuzuführen und auch, weil das Sperma
eine Schlüsselfunktion hätte bei der Entwicklung der
Qualitäten, die sich jetzt in der Menschheit herauszubilden
hätten. (Diese Frau ist keine Homöopathin und hat diese
Gedankengänge aus ganz anderen Kreisen in sich aufgenommen.)
Einige Tage später erzählte mir jemand von einer
Sperma-Verreibung, die für ihn sein bisher größtes
Gemeinschaftserlebnis gewesen sei. "Es stimmt nämlich gar
nicht, dass die Samenfäden egoistisch sind," sagte er,
"im Gegenteil: die helfen sich alle gegenseitig!" Da geht es
also um eine kollektive Qualität, die in den Einzelnen hinein
wirkt, ohne von ihm selbst geschaffen zu werden.
Möglicherweise deuten sich über das (uns noch fehlende)
Verständnis von Menstruationsblut und Sperma Wege an, die aus der
durch AIDS beschriebene Leere hinaus führen.
Die folgenden Texte entstanden in mir während des Verreibens ohne zu wissen, dass es sich beim geprüften Stoff um HIV/ AIDS handelte.
Überhaupt nichts denken müssen, nur warten, dass der Kopf
sich selbst mit etwas füllt! Das war sogar sehr schön. Sicher
hätte ich mir künstlich irgendwelche Gedanken machen
können, um die Leere im Hirn zu füllen. So etwa in der Art
"wenn dies, dann jenes ...." – aber das wäre dann
pure mechanische Logik – und das hat gar nichts mit mir zu tun!
Hier erlebe ich, dass der Geist völlig von der Seele abgetrennt
ist.
Es ist gut, dass wir das Denken an Computer abgeben können, denke
ich. (Ein anderer Teilnehmer, dem der Stoff bekannt war, hatte zuvor
geäußert, dass unsere ganze Misere durch die Computer
über uns gekommen sei). Nur das Loch, das sich nun in uns ergibt,
können wir nicht künstlich füllen. Wir
müssen es erst einmal aushalten! Bis dann etwas organisch
von allein entsteht, das wir jetzt nicht ahnen. Bis aus der Puppe ein
Schmetterling steigt. Man sieht ihn erst, wenn er schon draußen
ist.
Ich muss wieder an den Satz über eine Sperma-Vereibung denken
"Die sind gar nicht egoistisch, die helfen sich alle
gegenseitig!" Vielleicht entsteht – wenn wir uns aus diesem
kranken isolierten Zustand entpuppt haben – dann so etwas wie ein
gemeinsames Schwingen. Aber es braucht Raum, damit das Empfangsorgan in
uns dafür erst einmal entstehen kann. (Vielleicht haben deshalb der
leere Kopf und das Abgeben der Logik an die Maschinen sogar einen
Sinn?)
Vereinsamung hat nichts damit zu tun, dass wir die Computer haben,
denke ich. Aber der Zwang zur Kommunikation, den wir vorher hatten durch
die Notwendigkeit, muss jetzt durch etwas von Innen heraus
gefüllt werden. "Mehr ist hier (in der C3) nicht zu
sagen. Was das sein wird, entzieht sich dem Denken, denn es geht
über es hinaus." Das hörte ich als innere Stimme.
"Der Stoff will eine C6" (Es ist nicht ganz klar, ob das mein
eigener gemachter Gedanke war.)
Danach das Gefühl, jetzt kommt erst einmal Ratlosigkeit.
Dann spiegelt sich das ganze Thema der Isolation in mir noch einmal im
Thema Partnerschaft: Es ist ja auch in der Partnerschaft so. Wenn der
Zwang der Notwendigkeit wegfällt, miteinander einen Alltag regeln
zu müssen (beispielsweise weil die Kinder aus dem Haus sind, oder
einem Maschinen alles mögliche abnehmen) – dann folgt oft
Ratlosigkeit und Entfremdung. Man kann sich dann nur noch trennen.
– Oder (falls man wirklich etwas miteinander zu tun hat
und die Seelen sich berühren) wird es gerade dadurch ganz
reich. Weil man jetzt den endlich Raum hat, eigene Erfahrungen zu machen
und sich dann damit gegenseitig zu befruchten.
50 Minuten lang hatte ich keinen einzigen Gedanken, kein Gefühl,
nichts - ich konnte kein einziges Wort erhaschen. Dann kam ein
zunächst für mich unverständlicher Satz.
"Nur was sich erfüllt, wird gut."
Ich denke, dieser Satz muss etwas mit dem Füllen des emotionalen
und geistigen Loches zu tun haben, das vorher so deutlich zu spüren
war. Wegen der Empfindung, dass sich in mir kein geschlossener Text
einstellen wird, versuche ich einen Trick, der schon öfter
funktioniert hat. Ich stelle innerlich Fragen, auf die dann Antworten
erscheinen.
Kann ich das Loch füllen?
Antwort: "Nein, nur wegstopfen."
Wie füllt sich dieses Loch, frage ich weiter?
Antwort: "Warte!"
Werde ich in der C4 etwas darüber erfahren?
"Nein. ... Vielleicht" (und nach einer längeren
Pause) "Du kannst mit Logik nicht begreifen, was über
der Logik steht."
Was steht darüber?
Antwort: "!" (Das Ausrufezeichen kam tatsächlich als
Symbol zurück, deutlich sichtbar. Dann – nach einer Pause in
mein Warten hinein:) "Es wird zwischen euch sein." (also
zwischen zwei Menschen).
Kann ich etwas dafür tun?
"Sei offen! Ertrage die Leere und betäube nicht deine
Sinne."
Meine inneren Texte sagen mir, dass wir Menschen in unserer
Entwicklung an einem Punkt angekommen sind, wo wir durch Technologie von
jeglicher technologisierbarer Routine entbunden werden, die zuvor
unseren Alltag bestimmte. Damit ist uns aber zugleich auch die
wichtigste Basis unserer Kommunikation genommen, denn die Sprache und
das Miteinander entstanden im Menschen durch die Notwendigkeit
arbeitsteiligen Zusammenlebens!
Wir sind nun also an einem Punkt angelangt, wo wir den
technologisierbaren Teil aller Arbeit an Maschinen abgegeben haben. Das
betrifft sogar das Denken, soweit es sich als logisches Denken
formalisieren lässt. Was dann bleibt, ist zunächst einmal eine
große Leere und Ratlosigkeit in uns und ein
Gefühl der totalen Vereinzelung. Diese Leere ist
radikal und beängstigend, denn uns scheint nun all das wieder
genommen, was uns einst vom Tier abhob.
Wie sich die Leere dereinst füllen wird, können wir nicht
sagen, und wir können nichts dazu tun, als uns zu stellen. Für
dieses Durchgangsstadium steht das Bild einer Larve, die in ihrer
Verpuppung warten muss, bis das Neue entstanden ist und sich fertig
herausgebildet hat.
Persönlich glaube ich (darauf deuten für mich auch Gedanken
an Menstruationsblut und Sperma hin), dass wir an dieser Stelle unserer
Entwicklung aufgefordert sind, uns auf eine völlig neue,
zweckfreie und unverblümte Art zu begegnen – quasi mit
unseren Seelen direkt. Dass wir lernen müssen, nun unser
eigentliches Sein so durch unser Handeln nach außen strahlen zu
lassen, damit erkennbar wird, wer wir wirklich sind. (In dieser
zweiten, tieferen Deutung verstehe ich jetzt den Satz "Nur was sich
erfüllt, wird gut.")
Das wird kein Zuckerschlecken! Denn jede Begegnung mit Anderen wird
dann existenzieller, als sie es heute ist. Sie wird existenziell hohl
und leer, wenn wir uns nichts zu sagen haben. Oder sie bekommt –
wenn es möglich ist – eine ganz neue existentielle Dimension
von Tiefe und wirklichem Kontakt.
HIV/AIDS scheint als Stoff für das Thema der Leere und Vereinzelung keine Antwort oder Lösung parat zu haben. Er fordert uns nur auf, uns der Wucht dieser Erfahrung ganz zu stellen und sie nicht durch irgendetwas kompensieren zu wollen, beispielsweise durch hektische Sexualität oder jede andere Art von Betriebsamkeit.
Wenn wir uns auf diese Art vor der Konfrontation drücken wollen,
werden wir krank. Möglicherweise behindern wir uns nämlich
gerade dadurch in einem Entwicklungsschritt, der nur über diesen
schmerzlichen Zustand laufen kann.
(Anmerkung 2000: Inzwischen hat unsere Gruppe mit Medorrhinum und
Tuberkulinum einige weitere Nosoden verrieben und dabei etwas
Gemeinsames entdeckt: Sie alle hatten als Krankheitsstoff immer nur die
Qualität, und das Kranke unseres Zustandes ins Bewusstsein zu
heben, ohne auf eine Antwort verweisen zu können. Die Antworten
finden wir auf der Gefühlsebene, für die Seele, den Geist und
den Körper in jeweils verschiedenen Nosoden-spezifischen
Antwortmitteln.)
Erwähnenswert ist, dass ich selbst während der für
mich blinden Verreibung von HIV-Blut die zwingende Eingebung hatte, man
müsse, um die Krankheit AIDS besser zu verstehen unbedingt Poppers
verreiben! (Poppers sind chemische Verbindungen, die muskelentspannend
wirken und deshalb von vielen Homosexuellen konsumiert werden, weil sie
einen tieferen Orgasmus verschaffen.) Es gibt in der kritischen
AIDS-Literatur einige Stimmen, die Poppers eine Schlüsselrolle
zuschreiben für die Entstehung des bei männlichen AIDS-Kranken
gehäuft auftretenden Kaposi-Sarkoms.
Olaf Posdzech
15.2.1999