Einführung
Empirisches Bild (vipera, lachesis, crotalus horridus, naja)
Versuch einer einheitlichen Beschreibung
Anhang: Symptome von Crotalus horridus
Jenseits vom klassischen Arzneimittelbild werden in
diesem Text die vier Schlangenmittel so beschrieben, wie sie
während der aufeinanderfolgenden Arzneimittelprüfung innerhalb
eines Jahres erlebt wurden. Dabei zeigte sich, dass der Schwerpunkt des
Arzneimittelthemas auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegt, und auch die
Qualität der Gefühle war bei jeder Schlange jeweils eine ganz
andere.
Nach dieser Erfahrung lassen sich die Schlangen sehr
klar und deutlich voneinander abgrenzen, so dass ein allgemeine
Verschreibung von Lachesis als "die" Schlange nicht mehr angeraten
scheint.
Im zweiten Teil des Aufsatzes wird eine synthetische Sicht versucht, die sich jedoch zu etwa 80% auf tatsächlichen Beobachtungen während der Arzneimittelprüfungen stützen kann. Wegen dem Übersichtscharakter des Aufsatzes wurde jedoch darauf verzichtet, alle Aussagen durch entsprechende Zitate aus den Arzneimittel-Prüfungen zu belegen.
Im Laufe des Jahres 1998 hatte die Berliner Verreibegruppe die seltene Gelegenheit, gemeinsam mit Witold Ehrler alle vier Schlangengifte zu verreiben und mit diesen Arzneimitteln Erfahrungen im eigenen Leben zu machen. Zwei Mal war der Ausgangsstoff vor der Verreibung bekannt (Vipera und Crotalus) und zwei Verreibungen waren für die meisten Teilnehmer blind (Lachesis und Naja, in der Zwischenzeit wurden unter anderem Aranea und Selen verrieben).
Als wir mit Vipera begannen, wußten wir nicht, was uns dieses
Experiment bringen würde. Es bestand die Aussicht, daß sich
die vier Stoffe sehr ähneln würden, und diese Aktionen
vergleichsweise langweilig werden dürften. Zu unserer
Überraschung haben sich die Schlangen aber dann als so völlig
unterschiedlich erwiesen, daß es schwerfällt, überhaupt
Gemeinsamkeiten zu benennen!
Erstaunlicher Weise siedeln die Schlangen ihr jeweiliges Thema in
jeweils einer anderen der vier Ebenen von C1 bis C4 an. Sie decken damit
den ganzen Zyklus unsere eigenen Schlangenproblematik vom Körper
über die Gefühle und Gedanken bis in die Bereiche unserer
Sinnsuche ab. Das ist wieder einmal ein Punkt, an dem wir nur staunend
wahrnehmen können, daß unsere Urväter die diese
Schlangenmittel in die Homöopathie einführten, wußten,
was sie taten, obwohl sie nicht wußten, was sie taten!
Zugleich scheinen die vier Schlangen auch einen speziellen Weg zu
beschreiben, den die Seele im Umgang mit diesen Kräften gehen kann,
wobei jede Schlange in ihrer Krankheit auf einem anderen Punkt dieses
Weges festklemmt und nicht mehr weiter kann.
Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schlangen möchte ich an
dieser Stelle in ihrem Umgang mit Sexualität, Einsamkeit und
Schmerz darstellen.
Allen Schlangen gemeinsam ist, daß sie versuchen, die Lösung
ihres Problems im Kopf zu finden. Worin dieses Problem besteht, und wie
diese Kompensation dann konkret aussieht, ist aber recht
unterschiedlich.
Vipera
erschien uns als die Schlange der Körperebene.
Ständig sexualisiert und von allen Seiten verführt, versucht
sie ganz hilflos, im Kopf irgendeine Antwort auf die Frage zu finden,
was sie denn nun tun soll. Soll ich mit diesem Mann, oder doch lieber
mit diesem? Oder vielleicht doch mit einer Frau? Und bin ich denn
überhaupt monogam? Eigentlich habe ich ja doch Lust auf alle
– aber wie soll ich das denn nun wieder hinkriegen? Der Zweifel
durch Verführung ist allgegenwärtig, und Vipera ist ziemlich
hin und her geworfen in den Trieben, die sich in ihr von allen Seiten
melden. Ein wunderschöner Satz aus der Vipera-Verreibung war die
Erkenntnis, daß der Zweifel nur dadurch entsteht, daß zu der
festen Lösung ein zusätzliches Angebot hinzu tritt,
eine zusätzliche zweite Chance, alles ganz anders zu machen.
Daß also der Zweifel, den Vipera als Fluch erlebt, eigentlich der
Eintritt der Freiheit ist.
Die Lösung für Vipera ist die Erkenntnis, daß es egal
ist, was man tut. Entscheidend ist nur, daß man überhaupt
etwas tut – denn nur so kann man im Leben eine wirkliche Erfahrung
machen. Im Kopf macht man keine Erfahrung.
Man kann also sagen, die erste Aufgabe von Vipera besteht darin, der
Verführung zu folgen. Sie muß mit ihr umgehen, und zwar im
praktischen Handeln. Das bedeutet, den Konflikt zwischen
körperlichen Bedürfnissen und sozialem Verhalten lebendig zu
leben. Dabei ist die Forderung an Vipera, diesen Umgang mit der
Verführung sozial offen zu legen. Es wäre wahrscheinlich
politischer Sprengstoff, wenn das wirklich gelebt würde. Witold
Ehrler hat diese Aufgabe auf die schöne Formel des Wahrhaftigseins
gebracht. Die Aufgabe für Vipera ist es, wahrhaftig zu sein in
ihrem Umgang mit der Verführung.
Auch die oft benannte Verquickung von Vipera mit totalitären
Gewaltorganisationen (SA, Stasi) scheint aus der Verführung zu
kommen. Ein Prüfer hatte vor der Verreibung den Traum, er wird im
Zug von der Leibgarde des Führers mitgenommen, damit er dieser
Leibgarde beitritt. Und im Traum war er ständig hin und her
geworfen zwischen klarer moralischer Entrüstung und einem
Gefühl der Verführung und geschmeichelt sein.
Während Vipera bei all dem noch so etwas
leichtes und flüchtiges hat (von einer Verführung zur
nächsten), steckt Lachesis in
dem Drama ein ganzes Stück mehr drin. Für Lachesis ist es
keine Frage mehr, ob man seine Triebe lebt, Lachesis folgt der
Verführung. Ewig auf der Suche nach dem verlorenen anderen Teil,
der uns wieder heil macht, fühlt sie sich zutiefst verletzt durch
die Spaltung und spaltet doch selbst immer wieder aufs Neue.
Lachesis steckt in einem Gefühlsdrama, in dem es sich selbst als
Opfer erlebt, das ständig zu wenig bekommt. Aus dieser Verletzung
heraus beißt sie immer wieder zu, ohne ihre eigene Verletzung zu
zeigen. Ihre Wahrnehmung der Umwelt ist vor allem Argwohn. Keinem traue
ich was Gutes zu, weil ich die anderen genau so erlebe, wie ich im
Grunde eigentlich bin.
Die Kompensation dieser Verletzung ist für Lachesis, im Kopf
raffinierte Strategien zu entwickeln, mit denen sich das Ganze noch
irgendwie zum eigenen Vorteil steuern läßt. Der Haken darin
ist, daß sie zumindest unbewußt weiß, daß
dadurch alles nichts wert ist, was sie bekommt. Weil sie nichts
freiwillig bekommen hat, und sie sich jede Form von Zuwendung nur selbst
organisiert hat.
Die Lösung für Lachesis liegt darin, das eigene Rollenspiel zu
transzendentieren und die Täter-Opfer-Sicht völlig zu
verlassen. Dazu muß sie ihre eigenes Tätersein erkennen (was
natürlich schmerzhaft ist) und lernen, ihre eigene Verletzung und
ihre Ängste offen zu legen. Damit sie sich ihrer Umwelt endlich so
zeigt, wie sie wirklich ist.
Crotalus
hat auch die Gefühlsebene hinter sich gelassen und ist damit die
Schlange der C3. Sie repräsentiert den reinen Geist. Es ist grausam
anzusehen, zu welchem Monster der Mensch in Crotalus entartet, wenn er
seine Gefühle so vollkommen abgespalten hat!
Weil Fühlen zu sehr wehtut, lebt Crotalus als eiskalter Killer in
einer Welt der reinen Funktionalität. Alles wird nur noch nach
seiner Funktion bewertet, nach meßbarem abzählbaren Erfolg.
Sexualität ist auf den rein körperlichen Vollzug reduziert,
ohne irgendein Bedürfnis nach seelischem Kontakt. So zählt nur
noch der Überlegene, und Crotalus steuert damit – paradox
genug – in diesem Kampf um den persönlichen Vorteil auf den
wirklichen Tod zu, den es zuvor auf der Gefühlsebene vermeiden
wollte. So ist das Schicksal von Crotalus in jedem Fall der Tod: sie hat
die Wahl, irgendwann in diesem Kampf nicht mehr der schnellste zu sein
und zu verlieren. Oder sie nutzt die Chance, den ausgeblendeten Tod in
ihr Herz zurückzuholen und verdrängten Abschiedsschmerz zu
durchleiden, um dadurch wieder leben zu können.
Dann kann sie auch endlich wieder beginnen zu lieben. Doch selbst in der
Liebe ist Crotalus horridus die "schreckliche" Schlange. Denn was sie
von uns in der Liebe fordert, ist für uns ebenso schrecklich: Gib
alles auf was du dir wünscht, vergesse deinen Eigennutz
vollständig - nur dann kannst überhaupt lieben! Aber nehme in
Kauf, daß du vielleicht noch nicht einmal etwas dafür
erhalten wirst!
Als letze in diesem Schauspiel begegnete uns
Naja, die mit Zweifel, Tod und
Verführung auf der Wesensebene konfrontiert ist.
Naja hat nun auch dem eigenen Geist entsagt und sucht jetzt seinen Trost
in einer spirituellen Ebene. Hier füllt sich der Geist quasi "von
oben her" mit fremden spirituellen Konzepten, statt selbst das Leben zu
reflektieren. Der Körper tut klaglos sein Tagwerk, und das Ich
flüchtet sich in eine schönere Welt. Diese künstliche
Welt ist aber durch den fehlenden Kontakt zu Gefühl und Körper
so entrückt, daß dort keine wirklichen Erfahrungen mehr
gemacht werden können. Damit ist sie verlogen und unproduktiv.
Erlösung für Naja ist, irgendwann aufzuwachen, und
plötzlich die Welt und sich selbst ganz wach zu sehen, und zwar
auch hier auf eine völlig andere Perspektive. Erlösung
für Naja heißt, nun endlich ihre Körperlichkeit zu
leben, sprich: ihre Sexualität. (Bekannt ist bei Naja das
Leitsymptom: Sex bessert alle Beschwerden. Das bekannte Naja-Symptom der
Eierstockzysten ist eigentlich ein Heilversuch des Körpers, denn
der drastisch erhöhte Östrogen-Spiegel bewirkt eine
jugendhafte verführerische Ausstrahlung.)
Wir sehen zusammenfassend, daß alle vier Schlangen ihren Kopf nicht mit dem Körper – und vor allem nicht mit ihrem Herz - verbunden haben (daher auch die vielen Halsprobleme...). Wie diese Trennung aussieht, ist dann aber doch sehr unterschiedlich. Abschließend sei die Art, wie die vier Schlangen ihre Probleme kompensieren noch einmal an ihrem Umgang mit dem Thema Einsamkeit veranschaulicht.
Vipera versucht, das Thema durch Masse zu
kompensieren.
Lachesis versucht, das Defizit krampfhaft zu managen.
Crotalus schneidet die Gefühle einfach weg.
Und Naja entflieht dem Schmerz in eine andere Realität.
Auf einer abstrakteren Ebene kann man das Drama der Schlangen wie
folgt beschreiben :
Die Schlangen zeigen uns vier Irrwege, auf denen das Ich
versucht, mit den Anforderungen des Körpers (Trieb, Es), der Kultur
(soziale Bedürfnisse, Über-Ich), des Geistes (lineares
zählendes Denken) und einer spirituellen Sinngebung umzugehen. Die
Art des Umgangs ist immer manipulativ, das heißt, das Ich versucht
auf dem jeweils fokussierten Gebiet etwas für sich zu
maximieren.
Abb. 1: Zyklus der vier Schlangen
Vipera strebt nach maximaler
Triebbefriedigung.
Lachesis manipuliert den sozialen Kontakt.
Crotalus agiert allein auf der Basis von Berechnung.
Naja macht sich eine künstliche spirituelle Sinngebung.
Vipera das Wissen um eine innere
Bestimmung.
Lachesis das Gespür für ihre wirklichen
Körperbedürfnisse.
Crotalus entbehrt jedem sozialen Gefühl.
Naja verachtet das Gesetz der Logik und der Zahl.
Vipera gestaltet ihren sozialen Kontakt als
Werkzeug der Triebbefriedigung, und verwechselt das mit sozialem
Kontakt.
Lachesis findet tausend rationale Begründungen für ihre
Manipulationen und verwechselt dies mit Wissen.
Crotalus glaubt, der einzige Sinn liege darin, die Gesetze zu erkennen
und auszunutzen und verwechselt dies mit Sinngebung.
Vipera meint, ein spirituelles Dasein sei der Sinn des Lebens und
verwechselt das mit dem Leben.
Vipera &ndash die Schlange,
die unsere körperlichen Bedürftigkeiten in Frage stellt.
Lachesis – die Schlange, die unsere Emotionen in Frage stellt.
Crotalus – die Schlange, die unsere in geistigen Konzepte,
unser auf Zahlen und Logik fundiertes Wissen in Frage stellt.
Naja – die Schlange, die unsere Wesenskonzepte,
unsere höheren spirituellen Weisheiten in Frage stellt.
Es ist nun so, daß eine neue, weitere Sicht hier nicht künstlich von
außen gesetzt werden kann, etwa durch eine Autorität. Denn
für die Schlangen gibt es keine Autorität.
Vielmehr muß dieser Umschlag vom Ich selbst durchdrungen sein.
Danach könnten die Schlangen folgendes erkennen:
Vipera erblickt die wechselnden Forderungen
ihre Körpers aus dem Eingebundensein in einen sozialen Kontext.
Lachesis verliert die Täuschung des polaren Erlebens ihrer sozialen
Kontakte, und durchschaut nun höhere Zusammenhänge.
Crotalus erkennt die Unwesentlichkeit aller geistigen Konzepte aus einer
höheren Sicht.
Für Naja bricht alles, was sie für esoterische Erkenntnisse hält, als
Täuschung zusammen, und sie beginnt zu leben.
Es hat den Eindruck, die Schlangen heilen diese Irrwege nicht, indem
sie etwas ändern. Sondern sie öffnen unseren Blick für
das, was wir da tun. Damit machen sie uns wissend. Nach der Begegnung
mit den Schlangen kann man nicht mehr behaupten, man weiß es nicht
anders. Nach den Schlangen sind wir schuldig. Sie geben uns damit die
Ehre zurück, unsere Schuld selbst zu tragen und es von nun an
besser zu tun.
Die Verantwortung jedoch überlassen die Schlangen (raffiniert
genug) dem Ich. Es hat auch die Möglichkeit, auf
Schlangenart weiterzumachen. Dann könnte es sein daß es
– vielleicht in einem anderen Lebensfeld, aber nicht klüger
geworden – erneut in das Drama einer Schlange eintreten wird.
Spannend finde ich, daß die Lösung der Schlangen aber nicht darin liegt, das Ich nun aufzulösen (wie es beispielsweise bei Ambra der Fall ist), sondern daß das Ich wissender wird, bewußter und reifer.
Olaf Posdzech
6.12.1998