(Auszug aus einem Vortrag auf den Berliner Homöopathie-Tagen im September 1999. Dieser Vortrag ist im Verlag "Homöopathie und Symbol" als Kassette erhältlich.)
Erscheinung
In der Regel werden Sepia-Männer wegen der Scham für ihr
Mann-Sein eher weich wirken. Wir können sie
wirklich sehr mit Staphisagria verwechseln, solange wir uns nicht an das
tiefere "warum" herangetastet haben. Es gibt aber auch
Ausnahmen, in denen die ganze Thematik hinter einer eher
übertrieben männlichen Fassade versteckt
ist.
Ich erinnere mich an eine Veranstaltung, bei der wir hinterher noch zu
dritt auf dem Hof standen und uns angeregt unterhielten. Wir waren drei
Männer. Ich selbst nahm seit über einem Jahr Sepia, der
nächste sollte es zwei Monate später von Andreas Krüger
bekommen, und dem dritten würde es wahrscheinlich ungeheuer gut
tun. Dieser Mann wirkt auf den ersten Blick eher wie ein Macho, auch
wenn dieses Wort nicht so viel aussagt. Er ist gut gebaut, sehr
muskulös, geht oft ins Sportstudio. Er wirkt sehr selbstbewusst.
Also auf den ersten Blick überhaupt nicht wie Sepia. Als wir da so
standen, kam eine Frau mit ihrem Fahrrad, die irgendwie an uns vorbei
wollte. Sie war schon älter, und heute denke ich, sie hat sich
wahrscheinlich durch unsere Ballung an Männlichkeit schon bedroht
gefühlt. Wahrscheinlich hatte sie auch etwas mit Sepia zu tun und
befürchtete vielleicht, dass wir im nächsten Moment über
sie lästern könnten oder irgendwelche Zoten reißen.
Jedenfalls nahm sie ihren Mut zusammen und sagte dann – auch mit
einem Anflug von Selbstverteidigung oder Angriff "Kann ich hier mal
vorbei?" Ich hatte noch gar nicht die Frage begriffen, da schoss
dieser Mann schon zurück, "Jetzt stehen wir aber hier!"
oder irgend sowas. In atemberaubenden Tempo wurden immer ärgere
Beleidigungen von beiden hin und her geworfen und ich dachte nur, was
machen die da? Als die Frau weg war, fragte ich ihn, was er da anstelle.
"Ja, die blöde Kuh", erklärte er; "wenn die
wenigstens jung und knackig gewesen wäre, da hätte ich ja mit
mir reden lassen. Aber so eine...?!". "Sag mal, so willst du
doch eigentlich auch nicht behandelt werden?", fragte ich ihn. Er
zeterte noch eine Weile herum, aber schließlich bemerkte er dann
selbst, dass da irgendwas mit ihm durchgegangen war. Er hatte sich durch
die Frau auch angegriffen gefühlt. Und dann erzählte er davon,
wie es in ihm hinter seiner starken männlichen Fassade aussieht. Er
habe viele Jahre in einer anderen Stadt verbracht, sagte er, und er sei
damals furchtbar dick und unförmig gewesen. Die Frauen hätten
ihn höchstens ausgelacht. Er wurde nicht geachtet. Um aus dieser
Kränkung herauszukommen, baute er sich dann diese Fassade von
Muskelmann und Illustrierten-Männlichkeit auf. Dahinter aber
– da bin ich sicher – sitzt bis heute ein zu tiefst
verängstigter Mann, der weiß, er hat keine Chance auf Liebe
und Anerkennung für das, was er ist. Also die Fassade kann sehr
trügen. Fragt eure Patienten immer, nach dem Warum. Warum ist
diesem Mann diese Fassade von Härte und Kraft so wichtig. Manchmal
werden wir uns wundern, was dahinter zum Vorschein kommt.
Entscheidend im Auftreten von Sepia-Männern ist die
Selbstverteidigung. Sie ist so stark verinnerlicht,
dass sie reflexartig funktioniert. Das erlebt auch der Sepia-Mann so.
Oft empfindet er selbst hinterher Scham und Verwunderung, wenn ihm klar
wird, wie ausfallend und hart er da zurückgeschossen hat. Noch
öfter aber wird er diese Reue gleich wieder verdrängen, um
sich weiter als Opfer und in der Moral fühlen zu können. Die
Form der Angriffe erinnert tatsächlich sehr an den Tintenfisch:
Tinte raus und die entstehende Verwirrung nutzen, um schnell abzuhauen.
Der Tintenfisch ist ja an sich völlig ungeschützt und kann
sich nur in seiner Höhle verstecken. So ist es auch beim
Sepia-Menschen.
Gemüt
Der Sepia-Mann kann zwei Sorten von Menschen nicht
leiden. Das eine sind Sepia-Frauen, durch die
er sich immer angegriffen fühlt. Das ist, als müsste er sich
vor ihnen rechtfertigen, wie er es sich überhaupt erlauben kann,
als Mann geboren zu sein. Diese Angriffsgefühl ist so stark, dass
er auf Sepia-Frauen wirklich schon aus 10 Metern Entfernung reagiert und
in eine Abwehrhaltung geht. Nur ein falsches Wort von ihr, und sein Gift ist
draußen. Das geht schneller, als er denken kann.
Die zweite Sorte Menschen, die er überhaupt nicht ausstehen kann,
sind "richtige" Männer und Männer,
die Erfolg bei den Frauen haben. Da ist natürlich auch ganz viel
Neid dabei, weil es bei diesen Männern auf eine ihm
rätselhafte Weise doch irgendwie zu funktionieren scheint. Er kann
sich gar nicht vorstellen, woher die ihr Selbstbewusstsein nehmen,
obwohl sie ein Mann sind. Noch dazu ist ihm schleierhaft, warum ausgerechnet die
größten Machos als Mann begehrt werden.
"Wunsch, eine Frau zu sein oder in Frauenrolle zu
leben" aber gleichzeitig ein starkes Gedächtnis
für Geschichten, in denen Frauen übel mit den Männern
umgehen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis: Wir machen
Pulsatilla-Unterricht. Alle sind ganz weich und hingegossen und
möchten sich von der Welt nehmen lassen, da meldet sich
plötzlich ein Mann. Ja, sagt er, zu Mann und Frau fällt ihm
eine Geschichte ein von einer Vogelart im Urwald, die er gerade im
Fernsehen gesehen habe. Die Männchen dieser Vogelart bauten mit ganz
viel Anstrengung über Wochen ein kompliziertes Nest. Dafür
müssen sie erst ein paar Zweige kunstvoll zusammenbiegen, und dann
ganz viele kleinste Stöckchen herantragen. Es ist eine ungeheuer
aufwendige Arbeit und sehr kompliziert. Wenn sie fertig sind kommt das
Weibchen angeflogen und guckt. Sie dreht ein paar Runden um das Nest,
guckt hier mal und guckt da, und dann beschließt sie, dass es ihr
wohl nicht gefällt. Sie zöge dann einfach unten so ein
Stöckchen raus, und das ganze Nest falle vom Baum und sei
kaputt!
Wir wussten nicht so richtig, was diese Geschichte mit Pulsatilla zu tun
hat. Aber solche Geschichten sammelt ein Sepia-Mann natürlich.
"Vermeidungshandlungen, tut eine andere Arbeit als die
aufgetragene." Das liegt daran, weil er sich mit dieser
Aufgabe nicht konfrontieren kann. Er hat schon so lange gegen seinen
eigenen Rhythmus verstoßen, dass sein Grundgefühl ist, er ist
von diesen Aufgaben überfordert. Sulfur würde dann statt
dessen Feiern gehen, oder ein paar Drogen nehmen. Barium würde sich
vor der Welt im Bett verstecken oder hinter der Tür. Sepia
fühlt sich aber immer verpflichtet und macht dann statt dessen
andere Arbeiten, die auch irgendwie wichtig sind. Typische Geschichte,
die ich selbst erlebt habe: Ich habe noch nie so oft abgewaschen oder
meine Fußböden gewischt wie in den Zeiten meiner
Prüfungsvorbereitung für die
Heilpraktiker-Überprüfung.
In einem Punkt widerspricht mein eigenes Sepia Bild der gängigen
Lehrmeinung vollkommen. Es wird immer gesagt, Sepia habe eine Abneigung
gegen Sexualität. Wenn ich mir Menschen ansehe,
von denen ich weiß, dass ihnen Sepia gut getan hat und andere, bei
denen ich sicher bin, dass sie es brauchen könnten – sie
haben fast alle eine starke Sexualität! Aber: der
praktische Vollzug ist total schwierig, weil man befürchtet, dass
die eigene Sexualität nicht angenommen wird und gelebt werden kann.
Wie bei allen anderen Dingen im Leben fürchtet der Sepia-Mensch
gerade auch in der Sexualität, dass hier von ihm ein bestimmtes
Rollenverhalten erwartet wird, was vielleicht gar nicht zu ihm
passt. Im Repertorium finden wir für Sepia das Symptom
"weint beim Erzählen von ihrer/seiner Sexualität". Welcher Schmerz
und welche Sehnsucht müssen dahinter stecken!
Olaf Posdzech
27.9.1999