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last update: 2005-02-10

Sepia – Erläuterungen zum synthetischen Arzneimittelbild

(Auszug aus einem Vortrag auf den Berliner Homöopathie-Tagen im September 1999. Dieser Vortrag ist im Verlag "Homöopathie und Symbol" als Kassette erhältlich.)

Erscheinung
In der Regel werden Sepia-Männer wegen der Scham für ihr Mann-Sein eher weich wirken. Wir können sie wirklich sehr mit Staphisagria verwechseln, solange wir uns nicht an das tiefere "warum" herangetastet haben. Es gibt aber auch Ausnahmen, in denen die ganze Thematik hinter einer eher übertrieben männlichen Fassade versteckt ist.
Ich erinnere mich an eine Veranstaltung, bei der wir hinterher noch zu dritt auf dem Hof standen und uns angeregt unterhielten. Wir waren drei Männer. Ich selbst nahm seit über einem Jahr Sepia, der nächste sollte es zwei Monate später von Andreas Krüger bekommen, und dem dritten würde es wahrscheinlich ungeheuer gut tun. Dieser Mann wirkt auf den ersten Blick eher wie ein Macho, auch wenn dieses Wort nicht so viel aussagt. Er ist gut gebaut, sehr muskulös, geht oft ins Sportstudio. Er wirkt sehr selbstbewusst. Also auf den ersten Blick überhaupt nicht wie Sepia. Als wir da so standen, kam eine Frau mit ihrem Fahrrad, die irgendwie an uns vorbei wollte. Sie war schon älter, und heute denke ich, sie hat sich wahrscheinlich durch unsere Ballung an Männlichkeit schon bedroht gefühlt. Wahrscheinlich hatte sie auch etwas mit Sepia zu tun und befürchtete vielleicht, dass wir im nächsten Moment über sie lästern könnten oder irgendwelche Zoten reißen. Jedenfalls nahm sie ihren Mut zusammen und sagte dann – auch mit einem Anflug von Selbstverteidigung oder Angriff "Kann ich hier mal vorbei?" Ich hatte noch gar nicht die Frage begriffen, da schoss dieser Mann schon zurück, "Jetzt stehen wir aber hier!" oder irgend sowas. In atemberaubenden Tempo wurden immer ärgere Beleidigungen von beiden hin und her geworfen und ich dachte nur, was machen die da? Als die Frau weg war, fragte ich ihn, was er da anstelle. "Ja, die blöde Kuh", erklärte er; "wenn die wenigstens jung und knackig gewesen wäre, da hätte ich ja mit mir reden lassen. Aber so eine...?!". "Sag mal, so willst du doch eigentlich auch nicht behandelt werden?", fragte ich ihn. Er zeterte noch eine Weile herum, aber schließlich bemerkte er dann selbst, dass da irgendwas mit ihm durchgegangen war. Er hatte sich durch die Frau auch angegriffen gefühlt. Und dann erzählte er davon, wie es in ihm hinter seiner starken männlichen Fassade aussieht. Er habe viele Jahre in einer anderen Stadt verbracht, sagte er, und er sei damals furchtbar dick und unförmig gewesen. Die Frauen hätten ihn höchstens ausgelacht. Er wurde nicht geachtet. Um aus dieser Kränkung herauszukommen, baute er sich dann diese Fassade von Muskelmann und Illustrierten-Männlichkeit auf. Dahinter aber – da bin ich sicher – sitzt bis heute ein zu tiefst verängstigter Mann, der weiß, er hat keine Chance auf Liebe und Anerkennung für das, was er ist. Also die Fassade kann sehr trügen. Fragt eure Patienten immer, nach dem Warum. Warum ist diesem Mann diese Fassade von Härte und Kraft so wichtig. Manchmal werden wir uns wundern, was dahinter zum Vorschein kommt.
Entscheidend im Auftreten von Sepia-Männern ist die Selbstverteidigung. Sie ist so stark verinnerlicht, dass sie reflexartig funktioniert. Das erlebt auch der Sepia-Mann so. Oft empfindet er selbst hinterher Scham und Verwunderung, wenn ihm klar wird, wie ausfallend und hart er da zurückgeschossen hat. Noch öfter aber wird er diese Reue gleich wieder verdrängen, um sich weiter als Opfer und in der Moral fühlen zu können. Die Form der Angriffe erinnert tatsächlich sehr an den Tintenfisch: Tinte raus und die entstehende Verwirrung nutzen, um schnell abzuhauen. Der Tintenfisch ist ja an sich völlig ungeschützt und kann sich nur in seiner Höhle verstecken. So ist es auch beim Sepia-Menschen.

Gemüt
Der Sepia-Mann kann zwei Sorten von Menschen nicht leiden. Das eine sind Sepia-Frauen, durch die er sich immer angegriffen fühlt. Das ist, als müsste er sich vor ihnen rechtfertigen, wie er es sich überhaupt erlauben kann, als Mann geboren zu sein. Diese Angriffsgefühl ist so stark, dass er auf Sepia-Frauen wirklich schon aus 10 Metern Entfernung reagiert und in eine Abwehrhaltung geht. Nur ein falsches Wort von ihr, und sein Gift ist draußen. Das geht schneller, als er denken kann.
Die zweite Sorte Menschen, die er überhaupt nicht ausstehen kann, sind "richtige" Männer und Männer, die Erfolg bei den Frauen haben. Da ist natürlich auch ganz viel Neid dabei, weil es bei diesen Männern auf eine ihm rätselhafte Weise doch irgendwie zu funktionieren scheint. Er kann sich gar nicht vorstellen, woher die ihr Selbstbewusstsein nehmen, obwohl sie ein Mann sind. Noch dazu ist ihm schleierhaft, warum ausgerechnet die größten Machos als Mann begehrt werden.
"Wunsch, eine Frau zu sein oder in Frauenrolle zu leben" aber gleichzeitig ein starkes Gedächtnis für Geschichten, in denen Frauen übel mit den Männern umgehen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis: Wir machen Pulsatilla-Unterricht. Alle sind ganz weich und hingegossen und möchten sich von der Welt nehmen lassen, da meldet sich plötzlich ein Mann. Ja, sagt er, zu Mann und Frau fällt ihm eine Geschichte ein von einer Vogelart im Urwald, die er gerade im Fernsehen gesehen habe. Die Männchen dieser Vogelart bauten mit ganz viel Anstrengung über Wochen ein kompliziertes Nest. Dafür müssen sie erst ein paar Zweige kunstvoll zusammenbiegen, und dann ganz viele kleinste Stöckchen herantragen. Es ist eine ungeheuer aufwendige Arbeit und sehr kompliziert. Wenn sie fertig sind kommt das Weibchen angeflogen und guckt. Sie dreht ein paar Runden um das Nest, guckt hier mal und guckt da, und dann beschließt sie, dass es ihr wohl nicht gefällt. Sie zöge dann einfach unten so ein Stöckchen raus, und das ganze Nest falle vom Baum und sei kaputt!
Wir wussten nicht so richtig, was diese Geschichte mit Pulsatilla zu tun hat. Aber solche Geschichten sammelt ein Sepia-Mann natürlich.
"Vermeidungshandlungen, tut eine andere Arbeit als die aufgetragene." Das liegt daran, weil er sich mit dieser Aufgabe nicht konfrontieren kann. Er hat schon so lange gegen seinen eigenen Rhythmus verstoßen, dass sein Grundgefühl ist, er ist von diesen Aufgaben überfordert. Sulfur würde dann statt dessen Feiern gehen, oder ein paar Drogen nehmen. Barium würde sich vor der Welt im Bett verstecken oder hinter der Tür. Sepia fühlt sich aber immer verpflichtet und macht dann statt dessen andere Arbeiten, die auch irgendwie wichtig sind. Typische Geschichte, die ich selbst erlebt habe: Ich habe noch nie so oft abgewaschen oder meine Fußböden gewischt wie in den Zeiten meiner Prüfungsvorbereitung für die Heilpraktiker-Überprüfung.
In einem Punkt widerspricht mein eigenes Sepia Bild der gängigen Lehrmeinung vollkommen. Es wird immer gesagt, Sepia habe eine Abneigung gegen Sexualität. Wenn ich mir Menschen ansehe, von denen ich weiß, dass ihnen Sepia gut getan hat und andere, bei denen ich sicher bin, dass sie es brauchen könnten – sie haben fast alle eine starke Sexualität! Aber: der praktische Vollzug ist total schwierig, weil man befürchtet, dass die eigene Sexualität nicht angenommen wird und gelebt werden kann. Wie bei allen anderen Dingen im Leben fürchtet der Sepia-Mensch gerade auch in der Sexualität, dass hier von ihm ein bestimmtes Rollenverhalten erwartet wird, was vielleicht gar nicht zu ihm passt. Im Repertorium finden wir für Sepia das Symptom "weint beim Erzählen von ihrer/seiner Sexualität". Welcher Schmerz und welche Sehnsucht müssen dahinter stecken!

Olaf Posdzech
27.9.1999

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