Prüfungssymptome, Heilungssymptome, Abwehrsymptome
Bei der Erfassung von Arzneimittelbildern bestehen grundsätzliche Probleme – selbst wenn man sich auf die bloße
Empirie beschränkt.
In der Regel treten in jeder Arzneimittelprüfung mindestens drei grundsätzlich verschiedene Gruppen von Symptomen miteinander
vermischt auf, die sogar einander widersprechen können. Nur eine dieser Symptomgruppen darf im strengen Sinn als Prüfungssymptome in das Arzneimittelbild eingehen.
Drei Sorten von Symptomen in homöopathischen Arzneimittelprüfungen
In den 90er Jahren erlebte ich in Berlin einen Vortrag von Tinus Smits, der meinen Blick erstmals für ein Phänomen schärfte, das meines Wissens bis heute in der Aufstellung von Repertorien nicht genügend Beachtung gefunden hat. Da ich selbst einige Erfahrungen mit Gruppenprüfungen von Arzneimitteln sammeln durfte (bisher etwa 20), möchte ich sein Modell hier vorstellen und es um einen dritten Aspekt erweitern, der von uns ebenso regelmäßig beobachtet werden konnte.
Wir erleben in der homöopathischen Arzneimittelprüfung mindestens drei Arten von Symptomen, die ihrem Wesen nach grundsätzlich unterschiedlich sind, und von denen nur eine Gruppe im klassischen Sinn „homöopathisch“ genannt werden darf.
1. Prüfungssymptome
2. Heilungssymptome
3. Abwehrsymptome
Das Verwirrende daran ist, dass diese Symptome tatsächlich völlig entgegengesetzt sein können oder – wie im dritten Fall – in der Regel gar nicht Arzneimittel-spezifisch sind. Werden diese Symptome fälschlicherweise in das Arzneimittelbild übernommen, verwässert das die Darstellung. Man kommt zu völlig falschen Verschreibungen, die nicht mehr homöopathisch wirken können (im Sinne eines Umschlagens der Wirkung Similia similibus curentur).
Damit diese hier gezeigte Aufteilung nicht abstrakt bleibt, möchte ich sie nun an einigen Beispielen erläutern.
Schema: Die drei Grundarten von Symptomen während einer Arzneimittelprüfung
1. Prüfungssymptome
Dies ist die Gruppe der klassischen homöopathischen Symptome, also die Symptome der künstlichen Krankheit.
Solange es sich bei dem geprüften Stoff um eine giftige Substanz handelt (bei vielen althergebrachten homöopathischen Mitteln ist das der Fall) sieht die Sache noch einfach aus. Man vergleicht die Symptome mit der Pathophysiologie des unverdünnten Stoffes und schaut, welche Körper- und Gemütssymptome daraus den Beobachtungen in der Arzneimittelprüfung weitestgehend entsprechen.
Etwas schwerer ist es schon, wenn solche Aufzeichnungen noch gar nicht existieren – etwa bei einer Substanz, deren Giftwirkung bisher nur bei Tieren beobachtet wurde. Wahrscheinlich wird man sich entschließen, dann all die Symptome als echte „giftige“ Arzneisymptome zu werten, die körperlich ungesund wirken (z.B. Schmerzen), die als unangenehme Affekte erlebt werden, oder die vermuten lassen, dass sie zu einem geistigen Zustand führen, mit dem die Realität nicht mehr gut gemeistert werden kann.
Die beiden letzten Punkte sind allerdings schon sehr willkürlich, denn das selbe Gefühl wird in seiner Qualität von verschiedenen Personen oft sehr unterschiedlich gewertet. Beispielsweise lässt sich eine größere Schmerztoleranz sowohl als Heilsymptom werten (ich vertrage mehr), als auch als Verschlechterung (meine Warnsysteme funktionieren nicht mehr)!
Bei den emotionalen und Geistessymptomen ist die Wertung sogar noch willkürlicher, denn das geistig Normale ist zum großen Teil ein kultureller Zuschreibungsprozess, die Aufstellung einer Norm (z.B. gelten ungewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeiten – da sie von der Norm abweichen – häufig als pathologisch).
Noch schwieriger wird die Einordnung von Symptomen aus einer Arzneimittelprüfung bei Stoffen, die von ihrem Wesen her gar keine Gifte sind! Was sind die homöopathischen Krankheitssymptome von Muttermilch (Lac humanum, Lac maternum) oder von Zucker (Saccharum) – und was sind bei den Prüfern Heilsymptome (die demzufolge nicht in das Arzneimittelbild als zur Verschreibung geeignetes Symptom aufgenommen werden dürfen)?
Dies alles öffnet Raum für Willkür in der Zuordnung. Aus dem Symptom allein kann nicht immer geklärt werden, ob es als echtes Symptom in die Materia medica aufgenommen werden darf.
Die Frage der Zuordnung wird leichter, wenn man die anderen beiden anderen – im Folgenden dargestellten – Gruppen von Symptomen kennt und erkennt.
2. Heilungssymptome
Heilungssymptome entstehen vermutlich in jedem Prüfer, der zu dem geprüften Stoff auf irgendeine Art ungelöste Aspekte in die Prüfung mitbringt. Oder mit der Sprache von Andreas Krüger ausgedrückt: Heilungssymptome entstehen vermutlich in jedem Menschen, bei dem das geprüfte Mittel einem Anteil in der inneren Tafelrunde seiner Seele entspricht.
In der Regel werden sich Prüfungssymptome und Heilsymptome vermischen. Es treten in einer Person beide Kategorien auf. Dabei kann sich das Mischungsverhältnis zeitlich sowohl in die eine wie in die andere Richtung ändern:
- Im Prozess der Integration und Lösung eines Arzneimittelthemas vermehren sich beim Prüfer die Heilungssymptome des Mittels mit fortschreitender Zeit.
- Bei der fortgesetzten Arzneimittelprüfung am Gesunden sind es hingegen die Prüfungssymptome, die mit der Zeit stärker werden.
Wie schon dargelegt, ist die Zuordnung aufgrund der subjektiven Einschätzung nicht immer eindeutig möglich.
Ich möchte das am Beispiel einer Verreibung von Crotalus horridus erläutern. Wir haben 1998 in Berlin Crotalus horridus mit einer Gruppe von 14 Prüfern in mehreren Sitzungen verrieben. Die Gemütssymptome während der Verreibung waren teilweise so heftig und unangenehm, dass einige Prüfer gleich am Anfang aus der Gruppe ausstiegen und den darauf folgenden Prozess nicht mitgemacht haben, der sich über drei weitere Monate erstreckte.
Das hervorstechendste Geistes-und Gemütssymptom war ein Klima von absoluter emotionaler Eiseskälte und Aggression. Es trat in der ersten Verreibung von der ersten Minute an auf und wurde zunächst immer stärker. Jegliches soziales Gefühl war in uns völlig abgeschnitten und wir befanden uns in einem gefühlten Zustand von Kampf ums Dasein, in dem jeder nur noch in seinem kalten klaren Geist zentriert war. Wir spürten eine Atmosphäre von als sei jeder Fehler tödlich, und man müsse deshalb schneller und berechnender sein als jeder andere. Diese Wahnidee ging so weit, dass einige von uns Mordimpulse verspürten, die anderen umbringen zu wollen. (Im Rahmen einer Verreibung sind dies alles innere Prozesse, die die Teilnehmer in sich selbst erleben, keine ausgeführten Handlungen.)
Die Zentrierung im kalten berechnende Geist fand ihre äußere Entsprechung in realer Geschäftemacherei unter den Anwesenden und heftigen neidvollen Auseinandersetzungen darum im Rahmen unserer ersten Zusammenkunft.
Das war sozusagen das Bild vom mentalen Krankheitszustand von Crotalus horridus.
Da wir offenbar alle stark durch die Verreibung von Crotalus horridus vor eine innere Integrations- und Lösungsaufgabe gestellt wurden, gab es in der ersten Begegnung fast keine Heilsymptome, und uns war zugleich klar, dass wir uns mit diese Schlange würden noch weiter auseinandersetzen müssen. Daher brachen wir die Verreibung ab und beschlossen, uns Wochen später wieder zu treffen.
Die Themen von Crotalus begannen dann in uns zu wirken, und wir waren gezwungen, in unserem Alltagsleben einige Erfahrungen mit ihr zu machen.
Nur ein einziger Prüfer war uns in seiner Entwicklung offenbar um Monate voraus. Er blieb auch später von Symptomen verschont, von denen wir anderen heimgesucht wurden (unter anderem bekamen fast alle Teilnehmer echte Probleme mit ihren Zähnen). Die im Folgenden erwähnten Heilsymptome waren hingegen auch in ihm deutlich zu spüren.
Erst drei Monate später waren wir soweit in unserer Auseinandersetzung mit Crotalus horridus gekommen, dass
sich in uns wirklich etwas gelöst hatte und verstanden wurde. Auf dem
Weg dahin wurde jeder von uns damit konfrontiert, dass in seinem Kopf grundlegende
Konzepte zerbrachen, auf denen er sein Leben bisher aufgebaut hat. Unter anderem
brachen zwei Prüfer eine Ausbildung ab, die sie teilweise schon vor
längerer Zeit begonnen hatten. Andere erlebten, dass ihre Beziehungen
völlig in Frage gestellt wurden, oder dass sich für wahr gehaltene Gefühle als völlig unwahr erwiesen.
Dieses Zerbrechen von Konzepten auf allen Ebenen war also ein Heilungssymptom
von Crotalus, das im klassischen Sinn nicht zur Repertorisation geeignet wäre(!).
Vielmehr muss im Arzneimittelbild von Crotalus horridus das Gegenteil aufgeführt sein:
absolute Kopfigkeit, alles – auch das Privatleben – wird in Konzepte aus Bewertung in Maß und Zahl gepresst,
die von der wirklichen Welt und von den den Gefühlen abgetrennt sind.
Man hört z.B. von Crotalus-Patienten Sätze wie „diese Freundschaft rechnet sich nicht“.
Die Schwierigkeit der Zuordnung anhand des Gefühls möchte ich
an diesem Beispiel noch einmal aufzeigen.
Ein einzelner Prüfer kann die Atmosphäre von kalter Berechnung, die sich uns
soeben als Crotalus-Krankheit dargestellt hat, nämlich durchaus als
positiv erleben und deshalb für ein Heilsymptom halten.
Nehmen wir mal an, ein Mensch prüft Crotalus, dem es sehr schwer fällt,
seine Ziele klar zu formulieren und diese gegenüber seiner Umwelt
durchzusetzen. In einer Crotalus-Prüfung wird er es als große
Heilung erleben, dass ihm die Konzepte für das richtige Handeln plötzlich
nur so zufallen, und dass er in sich viel weniger soziale Einengung aus Rücksichtnahme und Gewissensbisse erfährt.
Wenn dieser Prüfer ein Homöopath ist, könnte ihn diese Erfahrung
dazu verleiten, von nun an Crotalus auch für ein gutes Mittel für Menschen mit
zu viel Rücksicht zu halten! (ähnlich wie z.B. Carcinosin).
Crotalus könnte aber in solchen Fällen nicht homöopathisch heilend wirken (im Sinne eines
Umschlagens bzw. vom System selbst gefunden Ausgleichs für zu viel Rücksicht). Seine
Wirkung wäre bestenfalls die einer „Heilprüfung“ oder genauer ausgedrückt: ein therapeutisch eingesetztes Prüfungssymptom der Arzneikrankheit.
Dieser Therapeut setzt die Arzneikrankheit ein, um dem Patienten die vorübergehende Erfahrung einer anderen Reaktionsweise zu ermöglichen.
Die Schwierigkeiten bei der Zuordnung der Symptome sind ein Grund, warum Arzneimittel-Prüfungen immer von Gruppen von Menschen durchgeführt werden sollten. (Darüber hinaus sollte der Stoff natürlich blind gegeben werden.)
3. Abwehrsymptome
Was passiert, wen ein Mensch mit einem Thema konfrontiert wird, das er nicht haben möchte, oder nicht bearbeiten kann? Bei den milden Arzneimittelprüfungen durch Verreibung konnten wir vor allem folgende Symptome beobachten:
- große Müdigkeit – der Prüfer schläft fast ein (das kann so weit gehen, dass er sogar im Akt des Rührens einschläft, das Pistill aus der Hand fällt), auch Gefühl wie gelähmt zu sein, Arme und Beine werden schwach, der Kopf ist wie benommen, Gefühl von Entkörperlichung
- übergroße Albernheit, Scherze und Zoten, hektische Gesprächigkeit, Witze reißen
- innere geistige und emotionale Abspaltung – der Prüfer tritt aus dem Thema hinaus und beginnt, nicht mehr sich selbst zu spüren, sondern statt dessen die Reaktionen der anderen zu beobachten und zu bewerten
Das sind alles sehr oft beobachtete Symptome bei vielen Verreibungen völlig unterschiedlicher Substanzen.
In der Regel sind diese Abwehrsymptome nicht geeignet, kritiklos ins Arzneimittelbild integriert zu werden – ich nehme an, das Repertorium ist in einigen Rubriken voll davon. Denn die genaue Form der Abwehr hat natürlich viel mit den typischen Abwehrmechanismen des Prüfers selbst zu tun. Wir erlebten, dass einige Prüfer in verschiedenen Prüfungen und Verreibungen jeweils immer die gleiche Form der Abwehr entwickelten.
Diese Abwehrsymptome sind aber manchmal zusätzlich auch gefärbt durch die Eigenarten des Mittels. Das bedeutet, dass die Abwehrsymptome möglicherweise auch Mittelsymptome sein können, die in die Materia medica eingehen sollten – wenn sie genau differenziert werden. Dafür ist aber eine sehr genaue Beobachtung nötig, die erfordert, dass mehrere Prüfer solche Symptome erleben. Jeder dieser Prüfer muss zudem seine eigenen Abwehrmodelle gut kennen um einschätzen zu können, ob sich in sie hinein zusätzlich etwas arzneimittelspezifisches gemischt hat.
Man kann also Folgendes beobachten:
- Da Abwehrsymptome von der Person abhängen, zeigen meist nur einzelne Prüfer diese Symptome
- Da Abwehrsymptome von der Person abhängen, zeigt die selbe Person in verschiedenen Prüfungen häufig die selben Symptome.
- Abwehrsymptome können zusätzlich arzneimittelspezifisch gefärbt sein.
Auch das will ich an einem Beispiel erläutern.
Meine eigene Abwehr bei Verreibungen bestand häufig im Entstehen einer lähmenden Müdigkeit
oder von Augenproblemen – wenn ich sozusagen „nicht sehen wollte“, welches Thema
bei dem entsprechenden Mittel gelebt und integriert werden soll.
Für mich
wäre es aber auffällig, wenn ich auf ein Mittel mit Hektik reagiere oder mit
einem Zustand von Benommenheit.
Ebenso auffällig ist es, wenn viele Prüfer
ähnliche Abwehrmuster zeigen. In so einem Fall würde ich die Abwehrreaktion oder das Thema des Abwehrens von
Gefühlen selbst – wie etwa bei einer Verreibung von HIV/ AIDS – durchaus für mittelspezifisch
halten. Dann sollte es in die Materia medica aufgenommen werden.
Die Kenntnis der eigenen Reaktionsweise lässt sich nicht schlagartig erlangen.
Sie entsteht nur allmählich durch eine größere Zahl von Arzneimittel-Erlebnissen.
Dies ist aber Voraussetzung, damit Prüfer ihre Abwehrsymptome überhaupt erkennen
können.
Olaf Posdzech
März 1999
Anmerkung 2019:
Da dieser Text im Jahre 1999 noch unter dem frischen Eindruck der Begegnung mit
Crotalus horridus (als Verreibung) geschrieben wurde, habe ich lange gezögert, ihn zu veröffentlichen. Ich fürchtete, dass er zu kopfig ist. Dies und eine lange Beeinträchtigung durch Krankheit hat dazu geführt, dass ich
diesen Text in leicht veränderter Form erst jetzt – 20 Jahre später – auf die Seite stellte.
Olaf Posdzech, März 2019
© Olaf Posdzech, 2019 Heilpraktiker, Naturheilpraxis für Homöopathie und Naturheilkunde in Erfurt