Auf diese Frage kann keine theoretische Antwort gegeben werden. Die einzige Chance zur Prüfung ist nur immer wieder die Empirie durch das Experiment! Dabei sollten einige Grundsätze der Methodik eingehalten werden (was jedoch nicht immer für alle Teilnehmer realisierbar ist).
Arzneimittelprüfungen sollten – wenn möglich – immer blind
erfolgen, oder besser noch doppelt blind. Das heißt, dass auch
die Organisatoren dann nicht mehr wissen dürften, welcher Stoff
bearbeitet wird!
Meines Wissens hat es (leider) bis heute keine doppelt blinden Verreibungen gegeben. In
der Regel war bisher bei allen Verreibungen mindestens zwei Leuten der jeweilige Stoff
bekannt. Das impliziert natürlich eine Beeinflussung der ganzen Gruppe durch die
Aussagen dieser Mitwisser, vor allem, wenn sie eine gewisse fachliche
Autorität besitzen.
Selbst wenn der Stoff bekannt ist, sollte aber auf jeden Fall vermieden werden, sich vor der Verreibung auf irgendeine Art näher mit seinem Arzneimittelbild zu beschäftigen! Dies ist nicht nur wichtig, damit keine Scheinidentität mit bekannten Arzneimittelbildern entsteht, sondern es hilft uns auch, nicht vorschnell an den provisorischen Bildern erst schlecht geprüfter Substanzen hängen zu bleiben. Viele der heute häufig genutzten Arzneimittel gehen auf überraschend wenige Prüfungsquellen zurück!
Einen weiteren Einfluss hat mit Sicherheit die Gruppendymik.
Während der Verreibung macht zwar jeder seine Aufzeichnungen für sich und
trägt diese unverändert vor. Aber bei der anschließenden Auswertung
erfolgt in der Regel eine Offenlegung der Gedanken und Empfindungen der anderen
Teilnehmer, wodurch die Gruppe sich für die Folgezeit gegenseitig beeinflusst.
Allerdings plädiere ich dafür, diese Eigendynamik produktiv zu sehen als ein
Element der Verstärkung.
Fernab dieser theoretischen Überlegungen bleibt uns letztlich nur die Überprüfung der tatsächlichen Empirie. Wir sollten in möglichst doppelt blinder Form Verreibungen durchführen, und wir müssen sie dokumentieren. Dann können wir sehen, inwieweit unterschiedliche Gruppen von Prüfern durch Verreibung zu identischen Arzneimittelbildern kommen. So ließe sich feststellen, welchen Beitrag Verreibungen tatsächlich zum Gesamtverständnis einer Arznei leisten können. Diesem Zweck dient der C4-Pool.
Bislang fehlt uns die empirische Basis, nach der wir einschätzen könnten, ob sich die Summe der aufgetretenen Symptome, die Essenzen und fokussierten Themenschwerpunkte bei zwei Vereibungen des selben Stoffes tatsächlich wiederholen.
Schrauben wir unseren Anspruch zurück, und schauen wir zunächst einmal, ob
das Phänomen der Verreibung selbst eigene
Gesetzmäßigkeiten zeigt, die sie von rein zufälligen
Begegnungen unterscheiden.
In der Tat gibt es sogar einige solcher Phänomene, und sie zeichnen sich durch
Wiederholbarkeit aus. Sie deuten darauf hin, dass:
Im Detail haben wir folgende Liste von Phänomen, die sich durch Wiederholbarkeit auszeichnen:
C1 | Körpersymptome, Funktionale Störungen, Blutumverteilung, Körpersensationen wie Schmerz, Wärme, Kälte … |
C2 | Emotionen |
C3 | Geist, mentale Aktivität, Gedankenandrang oder auch völlige geistige Leere, dabei Abwesenheit von Emotionen |
C4 | Wesensartiger Zugang zum Arzneimittelthema, oftmals tauchen Erkenntnisse oder überraschend neue Sichtweisen zu den vorher aufgeworfenen Thematiken auf, Empfindung einer lösenden Wende |
Die Ebenen oberhalb der C3 sind für uns schwerer unterscheidbar, da wir hierfür die Wahrnehmung kaum trainiert haben. In einer C4 tauchen zwar auch Gedanken auf, aber im Unterschied zur C3, wo man diese selber aktiv denkt hat man in der C4 die Empfindung, als fielen die Gedanken in einen hinein. Das wäre also eher wie bei einer Inspiration, die sich vom Denken unterscheidet. Ähnlich subtil sind die Unterschiede zwischen einer C5 und C4. Wir können dies zur Zeit noch nicht deutlicher formulieren.
Weitere Beispiele: Alge weigerte sich, höher als C2 verrieben zu werden (zwei unabhängige Versuche); Bei einer Verreibung der Bienenwabe erlebten alle drei Teilnehmer sogar bis zur C6 keine Wende der heftigen Einsamkeitsgefühle. Die Wende trat erst in den letzten Minuten der C7 auf.
Drastisch erlebte dies die Berliner Verreibegruppe bei allen
vier großen Schlangenmitteln, die sich ihr jedesmal bei der ersten C4 komplett
verweigerten. In der Crotalus-Verreibung 1998 hatten nur 2 von 14 Prüfern das
Gefühl, eine C4 erreicht zu haben. Alle anderen hatten spontan und jeder
für sich aufgeschrieben, dass dies ganz klar noch keine C4 war. Es war, als
würde der Stoff fordern Macht erst einmal eine Zeit lang mit mir eine
Prüfung in eurem täglichen Leben.
Als einige Wochen später die C4
nochmals neu verrieben wurde, stellte sich das Gefühl ein, die Stufe sei nun
tatsächlich erreicht.
In der 1998-er Crotalus Verreibung gab es eine Prüferin, die erst in der C4 zur Gruppe stieß. Sie hatte allein zu Hause die C2 und C3 verrieben und wusste nichts über die Ergebnisse der Gruppe. Trotzdem erlebt sie übereinstimmende Aussagen.
Ob diese Achsen tatsächlich mit der geographischen Position übereinstimmen, oder ob sich das System seinen eigenen Nordpol schafft, ist noch nicht ganz klar. Von der inneren Wahrnehmung her scheint das Denken im Norden zu liegen, das Fühlen im Süden, die aktive Seite im Westen und die passive (Opfer-) Seite im Osten. Demzufolge kann man die Rollen der Teilnehmer in den einzelnen Quadranten wie folgt bezeichnen: rationaler Täter, Macher (denken + aktiv sein), Beobachter (denken + passiv sein), Opfer (fühlen + passiv sein), getriebener oder durch Emotion gezwungener Täter (fühlen + aktiv sein).
Beispielsweise berichtet Brita Gudjons, Schon bei der ersten oben
genannten Verreibung von Mezereum [1987] erlebte ich zu meiner Überraschung eine
Reihe von Symptomen. Gleichzeitig sah ich wie in einem Tagtraum Bilder, die im
Zusammenhang mit der Arznei zu stehen schienen. Es entwickelte sich ein Frage und
Antwortspiel mit dem Wesenhaften der Arznei, wobei die Antworten in Bildern
erschienen. Nachdem ich zunächst ganz natürlich damit umgegangen war, wurde
mir plötzlich der außergewöhnliche Charakter dieses Zustandes mit
einem gewaltigen Schrecken bewusst. War ich reif für die Psychiatrie?
Nicht immer zeigen sich alle dieser Phänomene in voller Klarheit. In manchen dokumentierten Verreibungen lassen sie sich gut erkennen. Ich überlasse es dem geneigten Leser, das selbst zu überprüfen. Ein hervorragendes Beispiel ist das Protokoll einer Crotalus-Horridus-Verreibung in Berlin. Das ist ganz spannend und auf schöne Art selbstbezüglich. Denn Crotalus Horridus steht als Arzneikraft unter anderem für den von Gesetz und Zahl besessenen Wissenschaftler.
Persönlich habe ich einen Fall erlebt, bei dem zwischen zwei Verreibungen des
selben Stoffes wenig Deckungsgleichheit bestand. Bei einer Verreibung der
Sonnenblume im Jahre 2003 berichtete abschließend ein Teilnehmer
darüber, wie er den selben Stoff schon einmal mit anderen Personen verrieben hatte
(Audiomitschnitt der zweiten Verreibung vorhanden). Das von ihm verlesene,
stichpunktartig festgehaltenen Protokoll der ersten Verreibung schien kaum einen Bezug
zu den Symptomen und Themen der zweiten Verreibung zu haben.
Die Ursachen für mangelnde Übereinstimmung können vielfältiger
Natur sein. So ist es möglich, dass wesentliches Geschehen der ersten Verreibung
im Protokoll gar nicht aufgezeichnet war. Das kann ein Problem der Mitschrift aber auch
ein Problem im Austausch der ersten Gruppe gewesen sein (innere Zensur, voreilige
Trennung in wesentliche und unwesentliche Symptome).
Verreibungen können eine Arzneimittelprüfung nicht ersetzen. Ein
Grund besteht darin, dass in einer Verreibung sowohl Prüfungssymptome als
auch Heilungssymptome auftauchen. Das liegt in der Natur der Dinge. Hahnemann
schreibt in §121 des Organon … die schwächsten [Arzneien] aber
können, damit man ihre Wirkung wahrnehme, bloß bei solchen von Krankheit
freien Personen versucht werden, …
Diese Forderung kann im wirklichen
Leben nie ganz erfüllt sein. Jeder Mensch hat ungelöste innere Konflikte und
Inbalancen, die durch eine Arzneimittelprüfung aktiviert aber auch
geheilt werden können.
Die Unterscheidung dieser Symptome ist häufig nicht möglich. Das Gefühl
und der Verstand sind keine geeignete Instanz. Denn Prüfungssymptome können
sich durchaus angenehm anfühlen, und Heilungssymptome können im Sinne einer
Wachstumsaufgabe erheblichen emotionalen, körperlichen oder geistigen Schmerz
verursachen.
Das Problem dieser Vermischung zieht sich leider auch durch viele
klassische Rubriken unserer Repertorien, worauf uns Tinus Smits schon 1997 hinwies.
Auch hier sind oftmals Heilungssymptome in Rubriken geraten, in denen das Mittel gar
nichts zu suchen hätte.
In einer klassischen Arzneimittelprüfung hat man jedoch die
Möglichkeit, dies durch einfache Verlängerung der Einnahme auszutesten. Falls
Heilungssymptome im Rahmen der Prüfung entstehen, so müssen sie nämlich
bei fortgesetzter Einnahme wieder verschwinden. Prüfungssymptome bleiben
hingegen bestehen und verschlimmern sich. Das erfodert jedoch einige
Bereitschaft bei den Prüfern, sich dieser Verschlechterung auch tatsächlich
auszusetzen. Um den Leidensdruck und die Gefahr ernsthafter körperlicher
Somatisierungen zu reduzieren wird heute aber Prüfungsleitern fast immer
empfohlen, die Probanden beim Auftreten der ersten Symptome die Einnahme sofort
abbrechen zu lassen. Heute wie auch früher bedarf es der
persönlichen Opferbereitschaft von Homöopathen, in einer
Arzneimittelprüfung bis an die persönliche Grenze zu gehen.
Verreibungen sind auch wenig geeignet, um starke Körpersymptome hervorzurufen.
Es gibt zwar häufiger deutliche körperliche Empfindungen, wie Hitze,
Kälte oder auch Schmerz und sichtbare Blutumverteilungen. Das sind jedoch
funktionale Veränderungen. Es kommt fast nie zu organischen
Manifestationen. (Eher schon werden manchmal organische Heilreaktionen initiert.)
Es ist fast unmöglich, aus einer Verreibung allein eine Vorstellung davon zu
bekommen, wie sich die Essenz eines Mittels konkret in körperlichen
Symptomen ausdrückt. Demzufolge wäre es auch waghalsig, homöopathische
Mittel allein nach der Wahrnehmung des Behandlers auszuwählen, welche höhere
Essenz der Patient wohl zu bearbeiten habe. Das kann schnell spekulativ werden. Hier
braucht der Homöopath auch weiterhin ergänzendes Handwerkszeug:
körperorientierte Beschreibungen der klassischen Homöopathie wie auch
emotional athmosphärische Arzneimittelbilder.
Eine Gefahr liegt auch darin, ausschließlich das eigene Erleben während einer Verreibung für die Essenz oder wesentliche Botschaft des Stoffes zu halten. Das Erleben der verschiedenen Teilnehmer einer Verreibung kann sich nämlich ganz beträchtlich voneinander unterscheiden. Zum einen geschieht dies infolge der geometrischen Aufspaltung unter den Teilnehmern (rationaler Täter, Opfer, Beobachter, getriebener Täter), die sich oft deutlich zeigt. Zum anderen ist natürlich jedes Erleben auch persönlich gefärbt. Selbst deutlich erlebte Essenzen oder Lösungsbilder eines Arzneimittels können sich stark zwischen Teilnehmern unterscheiden.
Trotzdem sind Verreibungen die sanfteste und zugleich intensivste Methode, selbst ein Arzneimittelerfahrung zu machen. Diese Erfahrung prägt sich gleichsam in alle Zellen des Körpers ein. Wenn man bis zur C4 beziehungsweise höher bis zur Emfpindung eines Wendepunktes verreibt, wird man oft durch eine überraschende Erkenntnis oder ein Verstehen bereichert, und der eigene Horizont erweitert sich. Das ermöglicht uns, später Patienten ein besserer Begleiter in ihren eigenen Arzneierfahrungen zu sein. Denn wir haben nun über den Verstand hinaus auch einen Zugang mit dem Herzen. So können wir Wegbegleiter werden, die schon einen ähnlichen Weg zurückgelegt haben.
Die Wahrheit über eine Sache zeigt sich am ehesten, wenn möglichst viele Leute aus möglichst vielen Perspektiven auf sie schauen.